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Behördenversagen - Wie Deutschland daran scheitert, abgelehnte Asylbewerber abzuschieben Exklusiv für Abonnenten Polizisten und Verwaltungsbeamte verzweifeln am deutschen System: Warum ist es so schwer, abgelehnte Asylbewerber und straffällige Ausländer des Landes zu verweisen? 01. März 2019

Von Matthias Bartsch, Felix Bohr, Jürgen Dahlkamp, Jörg Diehl, Lukas Eberle, Ullrich Fichtner, Jan Friedmann, Dietmar Hipp, Roman Lehberger, Andreas Ulrich, Wolf Wiedmann-Schmidt, Steffen Winter

Wenn Bundespolizisten ins Erzählen kommen über ihre Arbeit an der Front der Abschiebung, kann es geschehen, dass man sich als Zuhörer für die Zustände in diesem Land zu schämen beginnt. Zu lernen ist, dass die Beamten, die im Dienst immer wieder tätlich angegriffen, mit Blut bespuckt und mit Fäkalien beschmiert werden, eine "Abnutzungspauschale" von 1,20 Euro für ihren selbst gekauften Anzug bekommen, den sie im Flugzeug bei der Abschiebung tragen sollen. Und dass die Dienststelle die Reinigung nur übernimmt, "wenn die Kleidung einer dem Dienst zuzuordnenden besonderen Verschmutzung (Blut/Speichel/Urin) unterliegt".

Zu lernen ist, dass den Polizisten schon mal die an Bord ihres Abschiebeflugs servierte Mahlzeit vom ohnehin mageren Reisetaschengeld abgezogen wurde. Die Beamten müssen, wenn sie auslaugende 72-Stunden-Touren nach Asien oder Afrika absolvieren, ihre Arbeitszeiten penibel protokollieren; einige berichten, dass ihnen die Stunden auf dem Rückflug nicht voll angerechnet würden, weil ihr Dienstherr das "Reisezeit", nicht "Arbeitszeit" nennt. Manchmal arbeiten sie 20, 30 Stunden am Stück, ehe sie ein schäbiges Hotelbett sehen. "Wenn wir in Afghanistan mal herumstehen, bevor es weitergeht", sagt ein Bundespolizist, "kann es sein, dass mir ein Teil davon als Pause von der Arbeitszeit abgezogen wird."

Was während des Einsatzes im Ausland zu bezahlen ist, strecken die Beamten aus privater Tasche vor, "und dann warte ich Wochen, bis ich es von der Bundesrepublik Deutschland wiederbekomme". Kehren die Polizisten vom Abschiebeflug zurück, gemartert allein schon von der Zeitverschiebung, müssen sie am folgenden Tag oft ganz normal zum Dienst erscheinen. Es gibt nämlich keine Extrafreizeit – ein Jetlag ist in den Dienstvorschriften nicht vorgesehen. Und die Rückführer haben immer wieder Probleme, die vollen Schichtzulagen zu bekommen, weil sie aus den Wechselschichten herausfallen. Am Ende verdienen sie dann sogar weniger, als wenn sie zu Hause in ihrer Einheit geblieben wären. So geht es zu. Man hört davon selten.

Der Alltag der Beamten, die den Kopf für Deutschland und das Funktionieren seines Rechtsstaats hinhalten, freiwillig, bleibt in der Regel unsichtbar in der miserabel organisierten Abschiebepraxis. Dass es auf der Asylbaustelle drunter und drüber geht, ist nichts Neues, nur wird der Befund ständig brisanter: Nach den Jahren der großen, ungeregelten Ankunft von 2015 und 2016 stünden nun Jahre der Normalisierung und der geordneten Rückführung an.

Statt aber nüchtern und kooperativ ein Asyl-, Ausländerrechts- und Abschiebesystem ins Werk zu setzen, das für alle Beteiligten taugt, hat sich der Wirrwarr nur verschlimmert. Und so wird das Thema regelmäßig zu einer neuen Nummer in der politischen Empörungsarena, in der Gewalttaten von Ausländern zu Schlagzeilen in der "Bild"-Zeitung führen, Marke: "Wie viele Opfer noch?"

Es stehen sich in Deutschland zwei gleichermaßen extreme Lager gegenüber, die im jeweils anderen den Teufel wittern. Auf der einen Seite steht ein mittlerweile fest etabliertes gesellschaftliches Milieu, das sich, angeführt von der AfD, inmitten eines von dunklen Mächten geplanten "Bevölkerungsaustauschs" wähnt. Auf der anderen Seite eine ideologisch entgegengesetzte, ausländerfreundliche Fraktion, die keine nationalen Grenzen mehr kennt und alles staatliche Handeln rigoristischen Moralvorstellungen unterwerfen will. Zwischen diesen Polen, "alle Ausländer raus" – "alle Ausländer rein", lavieren die politischen Parteien, die das Schwarz-Weiß-Spiel vor Wahlen aber manchmal doch auch gern selbst inszenieren.

Die handfeste Realität geht im dauernden Gezeter verschütt. Deutsche Regierungen und Behörden haben, so wirkt es, aus der Flucht aus Jugoslawien in den Neunzigerjahren nicht viel für ihr Handeln gelernt. Bis heute gibt es in Deutschland keine 500 Plätze für die Abschiebehaft, aber Tausende Kandidaten dafür. Selbst der Fall des Weihnachtsmarktattentäters Anis Amri, den eine versagende Asylbürokratie erst möglich machte, hat trotz aller anderslautender Bekundungen nicht zu einem radikalen Umdenken und einem seriösen Gesamtsystem geführt, in dem sich Bund und Länder mitsamt ihren Behörden sinnfällig und zielführend vernetzen. Stattdessen muss damit gerechnet werden, dass sich ein Fall Amri jederzeit wiederholen könnte.

So gilt, in Deutschland, die einfache, traurige Faustregel: Politiker, die sich vor Kameras stellen und als oberste Abschieber inszenieren, als Gesetzesverschärfer und Hüter des deutschen Volkes, sind in der Regel Hochstapler. Es mangelt auch nicht an Gesetzen, Vorschriften, Verordnungen und Verschärfungen, sondern an Taten. An Klarheit. An Übersicht. Vor allem fehlt die Erkenntnis, dass Bundesländer und kommunale Ausländerbehörden mit der bürokratischen Betreuung von Migranten aus aller Welt dramatisch überfordert sind. Es brauchte, auch im Land des großgeschriebenen Föderalismus, einen zentral geführten Prozess, der klare und gerechte Verfahren garantiert und das Klein-Klein beendet. Dazu gibt es Ansätze, Arbeitsgruppen, Task Forces, und doch fehlt ein schlüssiges Gesamtkonzept, obwohl ein "Masterplan" seit Monaten vorliegt. Den Schaden haben alle, die an den Abschiebeverfahren beteiligt sind.

Dass das europäische und das deutsche Asylwesen Züge eines Schildbürgerstreichs trägt, lässt sich in wenigen Zahlen darstellen. Im Zuge der Dublin-Verordnung etwa, die regelt, dass Ausländer ihren Asylantrag in dem Land stellen müssen, in dem sie die Europäische Union zuerst betreten, hat Deutschland im vergangenen Jahr 9209 Migranten in andere europäische Länder abgeschoben, gleichzeitig aber 7580 Asylbewerber von dort aufgenommen.

Insgesamt wurden im vorigen Jahr 23 617 Menschen aus Deutschland abgeschoben, zugleich aber scheiterten Abschiebeversuche in 30 921 Fällen, weil die Betroffenen verschwunden oder krank waren, Schicksalsschläge erlitten oder neue Gerichtsentscheidungen vorzuweisen hatten. Es wurden 7849 Fälle von "nicht erfolgter Zuführung am Flugtag" gezählt, und 3322-mal mussten bereits laufende Rückführungsversuche abgebrochen werden, etwa "wegen Beförderungsverweigerung", "wegen aktiven/passiven Widerstands", "wegen nicht flugreisetauglich", "wegen Rechtsmittel". Nicht eigens gelistet ist der Grund: wegen absurden Verwaltungsaufwands. Ein Bundespolizist rechnet vor, dass für die 150 Plätze einer Sammelabschiebung 1000 behördliche Vorgänge gestartet werden müssten, damit man 600 infrage kommende Personen identifizieren könne, von denen man 400 nachts unvorbereitet aufsuchen müsse, um am Ende 150 zu haben, die man ins Flugzeug setzen könne. Und auch das sei keineswegs sicher.

Ist eine Abschiebung doch vollzogen und abgeschlossen, setzt schon der Drehtüreffekt ein: Offizielle Statistiken gibt es nicht, aber hochrangige Beamte schätzen, dass ein großer Teil der aus Deutschland Abgeschobenen über kurz oder lang wiederkehrt, um das Glück neuerlich zu versuchen.

Hinter dieser Mauer aus Zahlen ist Abschiebung ein bitteres Geschäft. Es geht in der Regel um Menschen, deren Hoffnungen zerstört werden, um ihre Angst, was nun aus ihnen wird, um ihre Verzweiflung, dass alles umsonst war: das Geld, das sie dem Schlepper gezahlt haben, der oft gefährliche Weg nach Deutschland. Rückführung ist das schmutzige Ende aller Träume, und wer sagt, man solle abgelehnte Asylbewerber doch einfach abschieben, zack, zack, Ausländer raus, der macht sich keine Vorstellung, wie schmutzig es werden kann. Einerseits für die Menschen, die es trifft. Andererseits für die Polizisten, die es tun. Beispiele? Gibt es viele.

Am 6. Juni 2018 sitzen in Berlin-Schönefeld 90 Ausländer in einer Chartermaschine der tschechischen Billigfluglinie SmartWings. Mit an Bord 83 Bundespolizisten, 4 Ärzte und Sanitäter. Der Flug geht nach Madrid, weil die 90 Männer, Frauen, Kinder irgendwann mal in Spanien den Boden der EU betreten haben. Dort hätten sie bleiben müssen, statt nach Deutschland weiterzureisen.

Der Berliner Flüchtlingsrat spricht von einer "Horrorabschiebung": Polizisten hätten eine Frau gefesselt und vor den Augen ihrer weinenden Kleinkinder ins Flugzeug getragen; die Frau habe bitterlich nach ihrem Mann geschrien, der nicht mit abgeschoben worden sei. Eine andere sei geschlagen, ein geistig behinderter Mann mit einem Medikament ruhiggestellt worden, bis er "völlig weggetreten erschien". Überall verzweifelte, heulende Menschen, und was hätten die Polizisten gemacht? Sie auch noch ausgelacht.

In einer Antwort des Berliner Senats auf eine Anfrage der Grünen liest sich das nüchterner: "Die allgemeinen Vorwürfe physischer Gewaltanwendungen können nicht bestätigt werden." Eine fröhliche Flugreise war es dennoch nicht. In einer Erklärung der Bundesregierung heißt es: Ja, eine "Person" sei ins Flugzeug getragen, drei Familien seien auseinandergerissen worden, die Polizei fesselte fünf Menschen.

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Das ist, wie die Statistik zeigt, nicht selten: Von Januar bis November 2018 kamen bei solchen Flügen etwa 300-mal Fesseln oder Haltgurte zum Einsatz. Fünf Ausländer trugen einen Kopf- und Beißschutz, weil sie sich wehrten. Immer wieder finden Begleitpolizisten Rasierklingen, mal in Schuhsohlen, mal im Mund, mit denen sich Zwangspassagiere verletzen. Auch das zeigt, worum es für viele bei einer Rückführung geht: um ihr Leben. Um alles oder nichts.

Unterstützergruppen fragen deshalb ständig nach, was der Staat da eigentlich mit den Menschen macht. Auf der anderen Seite aber stehen die Polizisten, und wer fragt schon groß, was das alles mit ihnen macht? Nicht einmal ihr Arbeitgeber, die Bundespolizei, die den Großteil der Rückflüge abwickelt.

Polizisten sollen funktionieren, am besten so, dass es keinen Grund zur Klage gegen den Staat gibt. Dass die Abschieber sich selbst beklagen, haben Regierung und Behörden in den vergangenen Jahren weit weniger ernst genommen; woher die nötigen Kräfte kommen, hat den Staat lange kaum interessiert. Im Gegenteil: Wer sich als Beamter in so ein Flugzeug setzte, wurde von seinem Dienstherren geradezu schäbig behandelt.

Das geht schon los beim Geld. Bisher gab es keinen Cent Zulage für den Job des Rückführers, nur das übliche Auslandstagegeld, das jeder Beamte bekommt, der ins Ausland reist, etwa zu einer Konferenz. Anders Norwegen. Dort zahlt der Staat Polizisten pro Flug 600 bis 2000 Euro, Italien lässt sich drei Flugabschiebungen 1000 Euro Zuschlag kosten. Jetzt plant auch das deutsche Innenministerium eine Zulage, daran doktert es schon seit mehr als einem Jahr herum, aber die Beamten sollen nur 50 bis 100 Euro für einen Flug obendrauf bekommen. Und den Höchstsatz erst ab acht Stunden. So steht es in einem Entwurf, der 2020 Gesetz werden könnte, vielleicht rückwirkend ab 2019, aber wer weiß.

Der Fortschritt ist eine Schnecke im heutigen Deutschland, und man darf das skandalös finden. "Je mehr Abschiebungen es gab, desto mieser wurden die Bedingungen für die Personenbegleiter", sagt Jörg Radek von der Gewerkschaft der Polizei, "die Begleitbeamten wurden zum Sparschwein degradiert." Was die "Sparschweine" bei ihren Flügen statt Geld alles einstecken müssen, steht in den Einsatzberichten.

  1. Oktober 2018, Flug München–Rom, "im Flugzeug leisteten die neun Rückzuführenden weiterhin massiv aktiven Widerstand. Drei Personenbegleitern Luft der Bundespolizei wurde mit einem Spucke-Blut-Gemisch (Rückzuführender hat sich auf die Zunge gebissen) direkt in die Augen gespuckt".

  2. Januar 2019, Düsseldorf–Dhaka: "Rückzuführender Nr. 4 versuchte, die Polizeivollzugsbeamten zu beißen oder durch Kopfstöße zu treffen."

Und dann die Sache auf der A 3 bei Köln Ende Oktober 2018: Eine bayerische Polizistin, gerade 20 Jahre alt, und ihr Kollege wollen einen Nigerianer mit einem VW-Bus zur Sammelabschiebung nach Düsseldorf bringen. Der Nigerianer sitzt hinten im Gefangenenabteil; 550 Kilometer lang: keine besonderen Vorkommnisse. Plötzlich wickelt sich der Mann den Sicherheitsgurt um den Hals und versucht, sich zu erdrosseln. Vollbremsung, rechts rüber auf den Standstreifen. Die Polizisten springen zu dem Mann nach hinten, die Schiebetür fällt ins Schloss und lässt sich nicht mehr öffnen. Im Wagen schlägt der Nigerianer um sich, tritt die Innenverkleidung von der Karosserie, kann nur mit Not aus der Gurtschlaufe geholt und gefesselt werden. Danach brauchen die Polizisten noch einige Zeit, um sich mithilfe ihres Schlagstocks aus dem verschlossenen Bus zu befreien.

In einem internen Papier aus dem vergangenen April spricht die Bundespolizeiführung von "einer zunehmenden Gewaltbereitschaft und Heimtücke", mit der es die Beamten zu tun hätten. Sie leiden aber nicht nur unter der Aggressivität derer, die sie auf den Flügen begleiten müssen, was sie mindestens so nervt, ist die Kleinlichkeit ihres Dienstherrn. In den Dienstvorschriften ist niedergelegt, ob und wie Auslagen erstattet werden. Das führt dazu, dass in der Vergangenheit immer wieder das Menü im Flieger vom Tagegeld abgezogen wurde. Rückführer haben, bei längeren Einsätzen, nur das Recht auf ein Zimmer in einem billigen Hotel; hier wird dann natürlich auch das Frühstück wieder aufs Tagegeld angerechnet. Rucksäcke und Gürteltaschen für die Flüge mussten sich die Abschieber bisher selbst besorgen. Und beim Anzug, den sie sich bitte selbst für den Dienst kaufen sollen, gibt es nichts dazu; die schicken Skymarshalls dagegen, die Terroristen an Bord stoppen sollen, bekommen von der Bundespolizei ein paar Tausend Euro Startgeld für ihr Undercover-Outfit als Geschäftsflieger.

Geht es indes um Überstunden, nimmt es der Bund mit den Vorschriften nicht so piefig genau: Bei einer Abschiebung am 14. August 2018 von München nach Kabul zählten Polizisten aus Dresden 27 Arbeitsstunden am Stück. Die Rekordmarke soll bei rund 40 Stunden liegen. In einem vertraulichen Papier gab selbst die Führung der Bundespolizei im April zu, "dass die Rahmenbedingungen nicht gerade zur Attraktivität dieser Tätigkeit beitragen".

Das alles hat Folgen. Es wird nach Aussagen von beteiligten Beamten immer schwerer, noch genug Kräfte für die Flüge zu finden. Schließlich gilt, dass kein Beamter gezwungen werden soll; gesucht sind Freiwillige, die bereit sind, Ausländer gegen deren Willen auszufliegen.

Am 4. Dezember 2018 ging etwa der zweite Aufruf der Bundespolizeidirektion Sankt Augustin für einen Flug nach Pakistan heraus: "Von den erforderlichen 110 Personenbegleitern konnten bislang nur 59 zur Unterstützung gewonnen werden." Auch dieser dritte Aufruf aus dem Sommer für einen Flug nach Nigeria und Gambia ist dokumentiert: "Ich bitte um erneute Abfrage, um zumindest einen angemessenen Teil der angekündigten Rückzuführenden (38) begleiten zu können." Gemeldet hatten sich 16 Polizisten, gebraucht wurden 75.

In ihrem vertraulichen Papier vom April diagnostiziert die Bundespolizei offen "Einsatzmüdigkeit" in der Truppe. "Zunehmend" sei zu sehen, dass die verfügbaren Kräfte "an ihre Belastungs- und Motivationsgrenzen kommen" und "ein hoher Aufwand zu betreiben ist", um Freiwillige zu finden. Das sei keine Momentaufnahme; die Probleme reichten tiefer.

Für die Politik ist der Befund geradezu dramatisch: "Es ist zu unterstreichen, dass mit diesen Strukturen eine deutliche Erhöhung der aktuellen Rückführungszahlen nicht möglich sein wird. Selbst das Halten der bekannten Zahlen ist nur bei einer fortgesetzt hohen Motivation aller Beteiligten zu erwarten."

Was also tun? Not kennt kein Gebot – mit das Erste, was dem Bundesinnenministerium einfiel, war ein Erlass im September 2018, der für den Personalrat und viele Abschiebepolizisten ein Skandal ist.

Seit der Sudanese Aamir Ageeb 1999 bei einer Abschiebung im Flugzeug erstickt war, durften nur noch Polizisten mit ins Flugzeug, die einen 15-Tage-Lehrgang zum "Personenbegleiter Luft" (PBL) absolviert hatten. Davon gab es Ende vergangenen Jahres 1269, verteilt auf mehrere Standorte im Bundesgebiet; rund 1100 sind derzeit einsatzfähig. Der Erlass von Oktober sagt nun, dass "weitere geeignete" Beamte der Bundespolizei "zum Einsatz kommen" dürfen, Beamte ohne Lehrgang. Wer geeignet ist, dazu ist dem Erlass nichts zu entnehmen; er gilt erst mal bis Ende Juni.

Das Innenministerium beschloss damit aber nur, was es unter dem Druck zunehmender Abschiebeflüge längst gab: Nicht allein bei der angeblichen "Horrorabschiebung" von Berlin nach Madrid im Juni sollen Beamte ohne den Speziallehrgang an Bord gegangen sein. Die Bundespolizei operierte seit Monaten mit ungeübten Kräften bewusst in einer Grauzone. Belegt ist die Entsendung eines "gemischten" Bewacherteams von Polizisten mit und ohne Lehrgang im August nach Kabul. Nach einer Abschiebung im Oktober notierte ein Flugbegleiter, die ungeübten Kollegen hätten "nicht so wirklich gewusst, wie sie im Flieger arbeiten sollten".

In diesem Februar setzte die Bundespolizei einen Luftbegleiterlehrgang aus Frankfurt (Oder) ein, kaschiert als "quasi praktisches Training". In einem Beschwerdebrief des Hauptpersonalrats im Innenministerium an Staatssekretär Hans-Georg Engelke heißt es, mittlerweile dürften sogar Geschäftszimmerbeamte fliegen, ohne den nötigen Impfschutz, ohne Einreisevisum für das Zielland. "Es ist unverantwortlich, unausgebildete Beamte für Abschiebungen zu missbrauchen", wettert GdP-Mann Radek.

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Nun soll das geplante Gesetz den polizeilichen Flugbegleitern zumindest ein Trinkgeld bringen. Außerdem soll es dienstliche Kreditkarten geben, Sturmhauben, mehr sogenannte Spuckschutzhauben. Die Kürzung der Tagespauschale wegen eines welken Salatblatts an Bord der Flüge soll Vergangenheit sein. Irgendwie muss die Bundespolizei die 2000 Rückführer, die bis 2021 einsatzbereit sein sollen, schließlich heranschaffen. Sonst wird sich das Versprechen konsequenter Abschiebung nicht halten lassen.

Im derzeit gültigen Rahmen klappt das ohnehin nicht, und das hat nicht allein mit der Ausstattung der Beamten zu tun, sondern mit einem dysfunktionalen System. Ein Bundespolizist sagte dem SPIEGEL, dass Abschiebeflüge ständig ausfallen würden, egal ob es sich um harmlose Flüchtlinge oder üble Gefährder handle. "Wenn der Ausländer nicht in Haft ist, brauchst du dich auf die Maßnahme kaum noch zu bewerben. Du kommst zum Flughafen, und der ist einfach nicht da, und dann fällt die Abschiebung aus, und du verlierst die Arbeitsstunden. Ich bewerbe mich fast nur noch, wenn der Ausländer in Haft sitzt", sagt der Beamte. "Das machen viele so. Du besorgst dir sonst Visa, Riesenaufwand, alles umsonst, die haben sich verdünnisiert."

Immer wieder fielen Rückführungsflüge aus, weil sich zu wenige Polizisten gemeldet hätten, sagt der Praktiker. Es gebe "eine ganze Menge Maßnahmen", die nicht angegangen würden, "weil sich keiner darauf meldet". Jüngstes Beispiel am Mittwoch dieser Woche. Flug von Düsseldorf nach Accra in Ghana, 53 Ausländer angemeldet, nur 24 kamen, das Übliche. Aber von denen, so ein Polizist, musste man noch 8 stehen lassen – zu wenige Begleiter. Schließlich hatte man auch so schon 8 Ausländer in Fesseln an Bord; einer hatte einem Polizisten mit der Faust gegen den Kopf geschlagen, einem zweiten vors Knie getreten und einem dritten in den Bauch.

Am Stichtag 31. Januar waren in Deutschland 238.740 Ausländer "ausreisepflichtig", nur etwa die Hälfte von ihnen abgelehnte Asylbewerber, denn ausreisepflichtig sind auch Touristen, deren Visa ablaufen, oder Studenten. Die Begrifflichkeiten sind selbst für Juristen teilweise verwirrend. So wird in vielen Fällen ein "Abschiebungsverbot" erteilt, woraus sich ein Bleiberecht ableitet. Dieser Schutz greift, wenn einem Betroffenen in seinem Heimatland "eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit" droht oder die Behandlung einer schweren Krankheit dort nicht sichergestellt ist. Darüber hinaus gibt es aber noch reichlich andere Abschiebungshindernisse, die zu einer Duldung führen können (siehe Grafik).

Schwerwiegende gesundheitliche Gründe, eine bevorstehende Heirat, wenn ein hier lebendes Kind den Kontakt zu seinem Vater verlieren würde oder wenn jemand hier lebende Familienangehörige pflegt. Außerdem können Bundesländer befristete Abschiebestopps für bestimmte Staaten verhängen, aus eigenen humanitären, völkerrechtlichen oder politischen Gründen. Die Haltung zu Rückführungen nach Afghanistan etwa ist in den Bundesländern wegen der schwierigen Sicherheitslage unterschiedlich. Afghanen, die es nach Bremen verschlägt, haben gute Chancen zu bleiben, leben sie in Bayern, schützt sie ihre Herkunft kaum. Bezüglich seiner Abschiebepraxis ist Deutschland kein einheitlicher Rechtsstaat, sondern ein Flickenteppich.

Das System der Duldungen ist undurchschaubar geworden. Von den knapp 240.000 Ausländern, die Ende Januar ausreisepflichtig waren, hatten 182.169 den Status einer Duldung, aus den unterschiedlichsten Gründen, basierend auf den unterschiedlichsten rechtlichen Grundlagen. Man mag Duldungen aus politischen, humanitären Gründen noch nachvollziehbar finden, doch zuletzt wurde viel herumgedoktert. Aber es wurde lange Zeit alles in einen einzigen Paragrafen des Aufenthaltsgesetzes gestopft, von Abschiebungshindernissen bis zur "Ausbildungsduldung". Der Paragraf 60a wirkt inzwischen so lang, komplex und zugleich so wild zusammengeschustert, dass selbst ausgewiesene Experten für dieses Rechtsgebiet verzweifeln möchten. Nun plant die Bundesregierung aber, das Ganze neu zu strukturieren und im Zuge dessen auch eine "Beschäftigungsduldung" zu ermöglichen.

Die Probleme werden also durchaus bearbeitet. Aber wie! Arbeitsgruppen und Unterarbeitsgruppen von Bund und Ländern tagen seit Jahren regelmäßig, Spezialisten stoßen Gesetzesänderungen an. Derlei Aktivitäten führten im Herbst 2015 zum sogenannten Asylpaket I und 2016 zum Asylpaket II, beide nicht zuletzt geschnürt, um die Rechte betroffener Ausländer zu schwächen und die Durchgriffsrechte des Staates zu stärken. Auch nach Anis Amris Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016 wurden Regelungen verschärft, im Juli 2017 wurde ein Gesetz speziell für die Behandlung von "Gefährdern" geschaffen. Aus Sicht der Regierenden und des Gesetzgebers ließe sich behaupten, sie hätten ihre Arbeit doch gemacht. Aus den scharfen Texten der Juristen wird aber offenkundig keine einheitliche deutsche Rechtswirklichkeit. Und das liegt nicht allein am ständigen Bund-Länder-Tango.

Aktuell werden von den knapp 240.000 ausreisepflichtigen Ausländern in Deutschland allein mehr als 75.000 "wegen fehlender Reisedokumente" geduldet. Weil das Ausländerzentralregister aber so schlampig geführt wird, sind es nach Schätzungen des Bundesinnenministeriums wahrscheinlich sogar weit über 100.000. Sie vor allem verhageln den deutschen Ausländerbehörden den Alltag. Für besonderes Aufsehen in der Öffentlichkeit sorgt die Gruppe der ausreisepflichtigen "Gefährder". Das ist ein schwammiger Arbeitsbegriff aus der Polizeipraxis, mit dem Leute belegt werden, bei denen "bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen", dass eine Person "politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird".

Es ist ein Eiertanz, weil Gesinnungen hierzulande nicht strafbar, sondern die Gedanken frei sind. Immerhin kann der Staat mithilfe der Gefährderkonstruktion versuchen, die Betreffenden im Auge zu behalten. Und Paragraf 58a im Aufenthaltsgesetz sieht vor, dass ausländische Gefährder direkt abgeschoben werden können. So weit die Theorie.

In der Praxis scheitern Abschiebungen jedoch oft daran, dass die Heimatländer die Betroffenen nicht zurücknehmen wollen. Es gibt zwar viele internationale Verträge, Rückführungsabkommen, aber Papier ist geduldig, selbst wenn es die Unterschrift von Staats- und Regierungschefs trägt.

Das Beispiel Marokko zeigt, wie kompliziert es in der Praxis sein kann, mit einzelnen Ländern zu greifbaren Ergebnissen zu kommen. 2016 wurde auf Initiative der nordrhein-westfälischen Landesregierung die Task Force Marokko ins Leben gerufen, weil die Zahl der marokkanischen Straftäter über die Jahre signifikant gestiegen war. Mit dem Maghrebstaat gibt es seit den Neunzigerjahren eine Verabredung über die Ausstellung von Passersatzpapieren, doch das hat lange überhaupt nicht funktioniert. Die Landesregierung nahm deshalb Kontakt zum marokkanischen Generalkonsulat in Düsseldorf auf, um den Diplomaten klarzumachen, dass kriminelle Landsleute in Deutschland dem Ansehen ihrer Heimat schaden.

Inzwischen wurde es besser, zumindest ein bisschen, auch auf Druck der Bundesregierung. Musste Deutschland früher Fingerabdrücke per Post nach Marokko schicken, um dort Identitäten überprüfen und Passersatzpapiere ausstellen zu lassen, gebe es in dem nordafrikanischen Land mittlerweile ein mit dem deutschen kompatibles digitales System des Datenaustauschs, berichten Beamte. Fingerabdrücke landen jetzt mit einem Mausklick in Marokko, innerhalb von 45 Tagen kommt von dort eine Rückmeldung.

2016 schob NRW noch 59 Marokkaner ab, im vergangenen Jahr waren es bereits 382. Das System funktioniert also, wenn auch langsam: Marokko erlaubt Deutschland zum Beispiel nicht, dass die Landsleute in Sammelabschiebungen in Charterflugzeugen gebracht werden. Vonseiten der Landesregierung in NRW heißt es, dass der Bund mit Marokko verhandeln müsse, sonst sei man mit den Problemfällen noch auf Jahre hinaus beschäftigt. "Wir haben Tausende, die den Status 'vollziehbar ausreisepflichtig' haben", sagt Integrationsminister Joachim Stamp von der FDP, "und wer das liest, fragt sich: Sind die Politiker denn bekloppt? Warum werden diese Leute nicht abgeschoben? Aber so einfach ist das eben nicht."

Nichts ist einfach, wenn es um Abschiebungen geht. Selbst dann nicht, wenn es um mehrfach straffällig gewordene Ausländer geht, deren Anwesenheit in Deutschland von vielen Bürgern als besondere Zumutung empfunden wird.

Die Polizisten bekommen es mit zunehmender Gewalt und Heimtücke zu tun. 

Die gewalttätigen Männer aus Krisenländern wie Syrien, Libyen oder Gambia, unter ihnen Dauersäufer und Drogenabhängige, machen zwar nur einen winzigen Teil der Migranten aus, aber sie versorgen die politische Debatte mit dem meisten Gift. Wie wird man ihrer Herr? Was macht man mit einem Intensivstraftäter wie dem Pakistaner Saïd K., der im Mai 2018 in Tuttlingen, bewaffnet mit einer mit Nägeln gespickten Holzlatte, ins Landratsamt stürmte? Der in Haft später einen Mitgefangenen vergewaltigt haben soll? Dessen Asylantrag schon 2016 abgelehnt worden war, der aber nicht abgeschoben werden konnte, weil er keine gültigen Papiere besaß?

Einer Task Force im Stuttgarter Innenministerium ist es zu verdanken, dass der Täter Ende Januar dieses Jahres schließlich doch das Land verlassen hat. Die Einheit wurde Anfang 2018 ins Leben gerufen, um der neuen Lage in Baden-Württemberg zu begegnen: Zwischen 2012 und 2017 hatte sich die Zahl der nicht deutschen Tatverdächtigen, die innerhalb eines Jahres fünf oder mehr Straftaten begingen, von 2807 auf 4058 erhöht.

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Beim Stuttgarter Sonderstab sind neben terroristischen Gefährdern auch die übelsten ausländischen Intensivstraftäter registriert. Stabsleiter Falk Fritzsch betreibt mit einer Handvoll Mitarbeitern ein aufwendiges Fallmanagement. Erklärtes Ziel sei es, Rückführungen schneller hinzubekommen und "Abschiebungshindernisse zu beseitigen", sagt Fritzsch.

Zunächst muss er die Herkunft der Täter klären. Fritzsch fährt deshalb auch schon mal persönlich zu ausländischen Konsulaten in Stuttgart, um über fehlende Reisepässe, Ersatzdokumente und Rückführungen zu sprechen. Er kooperiert eng mit den Ausländerämtern, die wegen der Masse an Fällen überlastet sind. Im Amtsalltag bleibt häufig keine Zeit, eine Handydatenauswertung zu veranlassen.

Fritzsch unterhält Kontakte zu Staatsanwaltschaften, dem Landeskriminalamt, dem Verfassungsschutz und den Bundesministerien. Im Fall des Pakistaners K. wandte er sich ans Auswärtige Amt. Über einen Vertrauensanwalt gelang es, die Familie des Mehrfachtäters ausfindig zu machen und dessen Herkunft zu klären. Mit Methoden wie diesen hat der Stuttgarter Sonderstab inzwischen 56 Fälle gelöst. "Unsere Arbeit ist kein Massengeschäft", sagt Fritzsch: "Wir fokussieren uns darauf, diejenigen außer Landes zu bringen, die eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen." Die Fallliste wächst schneller, als sie abgebaut werden kann, auch in anderen Bundesländern.

Die Bundespolizei ist alarmiert über die "Einsatzmüdigkeit" in den eigenen Reihen. 

Im Düsseldorfer Flüchtlingsministerium bearbeitet das Referat 524 "Sicherheitskonferenz, Extremismus" derzeit die Fälle von rund 130 ausländischen Gefährdern und "relevanten Personen". Im vergangenen Jahr hat Nordrhein-Westfalen als bevölkerungsreichstes Bundesland die meisten Ausreisepflichtigen abgeschoben, insgesamt 6603. Derzeit gibt es im Land aber noch immer rund 15.000 Menschen, die als vollziehbar ausreisepflichtig gelten.

In Hessen führt man einen ähnlichen Kampf. Hier wurden im vergangenen Jahr landesweit mehrere "Gemeinsame Arbeitsgruppen Intensivtäter" gegründet, gemischte Teams aus Polizeibeamten und Mitarbeitern der örtlichen Ausländerbehörde. Dank der Arbeit dieser Einheiten seien bereits an die 200 Intensivtäter abgeschoben worden, sagt der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU). Er spricht von einem "Erfolgsmodell".

In Sachsen kümmert sich eine im Innenministerium angesiedelte Arbeitsgruppe "Aufenthalt" gezielt um Islamisten und kriminelle Ausländer, man zählt im Bundesland knapp 1600 Intensivtäter, die meisten aus Libyen und Tunesien. Und auch hier geht es immer wieder um kleinteiligen Papierkrieg, um das Fehlen von Dokumenten, um verschwundene Pässe, Ausweise, Identitätsnachweise.

Seit Jahren klagen Beamte, wie schwierig und undankbar das Gezerre um die fehlenden Papiere sei. In Dokumenten des Bundesinnenministeriums werden Ausländer, die an der Klärung ihrer Identität nicht mitarbeiten, "Identitätstäuscher" und "Mitwirkungsverweigerer" genannt. Manchmal ist nach 20 Jahren immer noch nicht geklärt, ob ein Mann aus Burkina Faso oder aus dem Senegal stammt. In Anspielung auf die Fantasienamen, die sich die Betroffenen gern geben, nennt der Chef einer Ausländerbehörde sie "Johnnie-Walker-Fälle". Den Behörden bleibe nichts übrig, als die "Johnnie Walkers" zu den Botschaften der infrage kommenden Länder zu schicken. Aber wenn es dort heiße: Sorry, das ist keiner unserer Staatsbürger, könnten sie oft nicht viel unternehmen.

"Wer das liest, fragt sich: Sind die Politiker denn bekloppt?", sagt der Minister. 

Zumal es nach wie vor Staaten gibt, die sich weigern, ihre Bürger wiederaufzunehmen. Als unkooperativ beim Ausstellen der nötigen Passersatzpapiere galt lange Zeit der Libanon: "Antworten auf Anträge äußerst rar. Kontakt zur Botschaft ist schlecht", vermerkten Beamte vor gut einem Jahr. Zu Indien hielten sie fest: "Streckenweise sehr langsame bis keine Bearbeitung der Passersatzanträge." Und zu Iran lautete das Urteil: "Eine Passersatzbeschaffung ist in vielen Fällen unmöglich, da Iran nach wie vor eine Freiwilligkeitserklärung der entsprechenden Person verlangt." Abschiebungen gegen den Willen der Abzuschiebenden sind also faktisch ausgeschlossen.

Dass Abschiebungen am Papierkram scheitern, liegt nicht nur an den Herkunftsländern, sondern oft auch an den überforderten deutschen Ausländerbehörden. In einigen Botschaften in Berlin stapelten sich fertig ausgestellte Passersatzpapiere, berichteten Beamte der Bundesregierung. In den diplomatischen Vertretungen frage man sich bereits, ob die Deutschen eigentlich zu blöd seien, die von ihnen angeforderten Dokumente abzuholen.

Abschiebungen, auch das gehört zur seriösen Beurteilung der aktuellen Debatte, waren in der Bundesrepublik die längste Zeit ein Schmuddelthema, das die Politik nach Kräften mied. Im Grunde herrschte ein unausgesprochener Konsens darüber, dass man sich daran die Finger lieber nicht schmutzig macht. Kirchliche und humanitäre Organisationen, engagierte Anwälte schlugen stets große emotionale Wellen, wenn es doch einmal eine Familie traf, einen gut integrierten Mitbürger. Für viele Deutsche fühlten sich Abschiebungen lange Zeit so an wie übertriebene staatliche Härte.

Dieses gesellschaftliche Klima drehte sich im großen Fluchtjahr 2015, und die berüchtigte Kölner Silvesternacht am Jahreswechsel zu 2016 beendete die moralische Gemütlichkeit und brachte den strengen Rechtsstaat als Gebot der Stunde zurück. Es konnte nun vielen, auch vielen Politikern, gar nicht schnell genug gehen, die von Polizisten damals intern als "Nafris" titulierten "nordafrikanischen Intensivtäter" hinzuschicken, wo der Pfeffer wächst, und die ganzen abgelehnten Asylbewerber gleich mit.

Die Bundesregierung beauftragte McKinsey, um das Abschiebewesen einmal von Grund auf zu analysieren, und die Unternehmensberater kamen zum erwartbaren Ergebnis, dass es damit nicht zum Besten stehe. Die Consultants setzten in schönster Prozesslogik auf ein Geben und Nehmen und empfahlen einerseits höhere Rückkehrprämien für eine freiwillige Ausreise – und andererseits mehr Härte gegen alle, die sich verweigerten. Außerdem wurden effizientere Abläufe zwischen den vielen beteiligten Behörden eingefordert, ein "Rückkehrmanagement" aus einem Guss.

Viele Staaten sträuben sich, die"Identitätstäuscher" zurückzunehmen. 

Davon kann indes keine Rede sein, auch wenn die Ämter heute tatsächlich enger zusammenarbeiten. Es gibt eine zentrale Asyldatenbank, auf die die beteiligten Behörden zugreifen können, die Verzahnung ist besser geworden, Akten werden elektronisch übermittelt, nicht jeder Schritt wird von jedem Amt noch mal neu gemacht. Das Problem: Widersprüche, Gesetzeslücken und Planungsfehler verhindern, dass nicht genug vom Richtigen passiert.

So ist es in Deutschland nicht gelungen, einen politisch-administrativen Konsens über die Abschiebungen herzustellen. Je nach politischer Konstellation kann ein abgelehnter Asylbewerber mit mehr oder weniger Milde rechnen, je nachdem in welchem Bundesland er sich aufhält. Die Verwirrung endet auch nicht vor den Gerichtssälen. Anders, als man vermuten würde, ist die Rechtsprechung vor den für Asylfragen zuständigen Verwaltungsgerichten alles andere als einheitlich. Manche Richter meinen, eine Dublin-Abschiebung nach Bulgarien sei unzumutbar, weil Asylbewerber dort nicht ordentlich behandelt würden, andere halten eine Überstellung dorthin für vertretbar. Solche Widersprüche erwachsen auch aus dem Umstand, dass im Asylrecht Grundsatzentscheidungen fehlen, an denen sich die Richter orientierten könnten. Die Gerichtsverfahren wurden nämlich so verkürzt, dass vieles nicht mehr bei den Obergerichten landet, die für eine einheitliche Rechtsprechung sorgen sollten.

"Das ist dann am Ende eine Asyl-Lotterie", sagte Robert Seegmüller, Richter am Bundesverwaltungsgericht, kürzlich auf einer Konferenz der FDP, "und da sagt natürlich jeder: Hey, an der Lotterie nehme ich teil, vielleicht gewinne ich ja."

Immerhin: Wenn es um die Abschiebung von Gefährdern geht, sind die Behörden auch auf der Bundesebene aufgewacht. Die Bundesregierung hat seit Amris Terroranschlag den Druck auf die Maghrebstaaten erhöht, Gefährder und andere Staatsbürger zurückzunehmen, und tatsächlich kooperieren Tunesien und andere Länder der Region nun deutlich besser. Wurden 2015 nur 17 Tunesier in ihre Heimat abgeschoben, waren es im vergangenen Jahr 343. Algerien und Marokko nehmen im Vergleich zu 2015 heute zehnmal so viele Bürger wieder auf, die Algerier im vergangenen Jahr 567, die Marokkaner 722.

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Im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum beschäftigt sich die "AG Status" aktuell mit rund 660 Islamistenfällen, wie aus einem Vermerk aus dem Innenministerium hervorgeht. Dort prüfen Fachleute mehrerer Behörden, welche aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen möglich sind – bis hin zur sofortigen Abschiebungsanordnung durch den Minister. Unterstützung bei der Rückführung von Straftätern bekommen die Behörden inzwischen auch von der "AG Sicherheit" im 2017 geschaffenen "Gemeinsamen Zentrum zur Unterstützung der Rückkehr". Aktuell werden dort 120 Fälle bearbeitet. Zudem hat das Innenministerium eine "Task Force Gefährder" gebildet, die den Bundesländern bei der Rückführung von Islamisten und Intensivtätern helfen soll.

Juristen stehen als hartherzig da, Pfarrer inszenieren sich als Widerstandskämpfer. 

Und Seehofers Haus plant weitere Verschärfungen. In diesen Wochen wird die Kabinettsvorlage eines "Geordnete-Rückkehr-Gesetzes" erarbeitet. Die zugehörigen internen Arbeitspapiere wirken wie gemacht für die im Herbst anstehenden Landtagswahlkämpfe. Die Voraussetzungen für Duldungen sollen beschnitten werden. Wer nachweislich selbst dafür verantwortlich ist, dass die für eine Abschiebung nötigen Papiere fehlen, wer getrickst hat, soll nur noch einen Status "unterhalb der Duldung" erhalten, in Gemeinschaftsunterkünften wohnen und nicht arbeiten dürfen. Flüchtlingshilfsorganisationen können sich künftig strafbar machen, wenn sie Abschiebetermine ankündigen oder Betroffene anderweitig warnen.

In Zukunft soll es auch leichter werden, Migranten in Abschiebungshaft zu nehmen. Seehofer will dafür sogar geltendes EU-Recht aussetzen, um Abschiebehäftlinge vorübergehend auch in normalen Gefängnissen unterbringen zu können. Er argumentiert dabei, Trump lässt grüßen, mit einer Notlage: Weil es derzeit nur 479 Abschiebehaftplätze in ganz Deutschland gebe und die Länder neue Plätze erst schaffen müssten, solle das Trennungsgebot der EU drei Jahre lang ausgesetzt werden.

Vieles wirkt wie politische Tünche. Statt dem Asyl- und Ausländerrecht in Deutschland ein neues Haus zu bauen und die Länder für ein einheitliches Vorgehen zu gewinnen, wird gebastelt und gestoppelt. Es bleibt beim deutschen Kompetenzwirrwarr. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, kurz: Bamf, bestimmt, welche Asylbewerber bleiben dürfen und wer gehen muss, und ist dann zuständig für die Betreuung der Dublin-Fälle. Die Abschiebungen und Duldungen fallen in die Zuständigkeit der zentralen Ausländerbehörden in den Ländern und der etwa 600 kommunalen Ausländerbehörden. Steht eine Abschiebung konkret an, kommen zum Abholen und Zuführen Kräfte der Ausländerbehörden oder der Landespolizei, während die Bundespolizei die Begleitung der Flüge übernimmt. Man muss das als Laie nicht verstehen. Die Beteiligten haben ja selbst Mühe damit. Und so blühen in den Nischen exotische Blüten.

Das Kirchenasyl ist dafür ein besonders schönes Beispiel, formal nicht existent, aber doch irgendwie geduldet, ein Phänomen jedenfalls, das regelmäßig für Konflikt zwischen Behörden und Kirchenvertretern sorgt. Über die geltende Konstruktion verständigten sich Bamf und Bevollmächtigte der beiden Kirchen 2015: "Die Beteiligten stimmen überein, dass das Kirchenasyl kein eigenständiges, neben dem Rechtsstaat stehendes Institut ist, sich jedoch als christlich-humanitäre Tradition etabliert hat", lautet der entscheidende Satz in dem Ergebnisvermerk von 2015, der einem Stillhalteabkommen gleichkommt.

Regelmäßig ermitteln seither Staatsanwaltschaften gegen Kirchenleute wegen Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt, stellen die Verfahren jedoch fast immer ein. Diese Praxis ärgert viele Juristen: Sie müssen Verstöße feststellen, die nicht sanktioniert werden, und stehen in der Öffentlichkeit als hartherzige Bürokraten da, während sich die Pfarrer mit ihren Gemeinden als Widerstandskämpfer inszenieren.

Gut 3000 Migranten hielten sich seit 2017 zeitweise im Kirchenasyl auf, die Zahlen sind inzwischen deutlich rückläufig, unter anderem weil Regeln verschärft wurden. Wurden im Jahr 2017 noch 100 bis 200 neue Kirchenasyle pro Monat gemeldet, waren es seit August 2018 nur noch rund 60 Fälle pro Monat. Am grundsätzlichen Rechtsdilemma ändern die Zahlen nichts, das Kirchenasyl ist zu einem Lieblingsthema der AfD geworden: Im Bundestag und in mehreren Landtagen hat sie sich für die Position starkgemacht, Kirchenasyl habe "keine rechtliche Grundlage", der Staat gestehe den Kirchen "faktisch eine Sonderrolle als Fürsprecher für Asylbewerber zu".

Die AfD ist mit dieser Ansicht nicht allein. In ganz Europa macht sich beim Thema Asyl eine neue Härte bemerkbar, in Italien genauso wie in Österreich und Ungarn. Die so lange als besonders liberal geltenden Nordeuropäer haben sich schärfere Regeln für die Aufnahme und die Rechte von Zuzüglern gegeben, was nicht ohne Folgen bleibt. Aus Dokumenten der Bundespolizei geht hervor, dass die Zahl der nach Deutschland ziehenden Flüchtlinge, die zunächst in Skandinavien Asyl gesucht hatten, seit Jahren kontinuierlich steige. Experten nennen das Sekundärmigration, und sie geht laut Bundespolizei auch auf die deutlich schärfere Gangart der Skandinavier zurück.

Dänemark hat Sozialleistungen gekürzt und will Abschiebungen konsequenter durchsetzen. Finnlands Behörden können Asylbewerber verpflichten, in bestimmten Heimen zu wohnen und sich dort regelmäßig zu melden. Auch Norwegen hat seine Abschiebepolitik erheblich verschärft. In Schweden schließlich bekommen abgelehnte Asylbewerber weniger Sozialleistungen als zuvor. Es weht ein anderer Wind in Europa, selbst dort, wo das Klima lange Zeit als besonders mild galt.