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Brennpunkt Ruhrgebiet - Wie kriminelle Großfamilien in Essen herrschen Exklusiv für Abonnenten Das Ruhrgebiet ist zu einer Hochburg arabischstämmiger Clans geworden; die Polizei blieb jahrelang weitgehend tatenlos. Damit soll nun Schluss sein, verspricht die Politik. Wirklich? Von Jörg Diehl, Lukas Eberle 20. Februar 2019

Ehe der Staat Stärke zeigte, musste ihm vielleicht seine Schwäche vorgeführt werden. Und deswegen ist die Wirkung des öffentlichen Hilferufes aus der Essener Nord-City erheblich. Im Dezember 2017 beschwert sich eine Interessengemeinschaft von Essener Geschäftsleuten über die Umtriebe der Clans, eine Lokalzeitung berichtet.

In der Erklärung der Kaufleute aus einer Gegend, in der viele arabischstämmige Familien ansässig sind, geht es um "permanente Rechts- und Regelverstöße bis hin zu organisiertem kriminellen Verhalten", mit denen Clan-Mitglieder aufgefallen seien. Es gebe "erheblich differente Wert- und Rechtsvorstellungen". Und es heißt: "Wir haben Rechtsverletzungen bis hin zu Schwerstkriminalität erleben müssen, und die Ausschreitungen in den letzten Wochen zeigen nun ein Ausmaß, das vollkommen inakzeptabel ist."

Zuvor ist es in Essen wiederholt zu Krawallen gekommen, an denen immer wieder arabischstämmige Männer beteiligt gewesen sein sollen. Der öffentliche Appell der Kaufleute gipfelt in den Worten: "So geht es nicht weiter!"

In kaum einer Region Deutschlands ist in den vergangenen Jahren die Zahl der Clans so gewachsen wie im Ruhrgebiet. Einer der Gründe dafür ist, dass von Duisburg bis Hamm der Wohnraum erschwinglich ist, mit dem Sterben der Steinkohlezechen sind viele Alteingesessene fortgezogen. In manchen Städten standen ganze Straßenzüge leer, oft haben sich dort türkisch-arabische Großfamilien niedergelassen.

In Städten wie Essen sind Viertel zu Brennpunkten geworden, vor allem im Norden der Stadt tragen Kriminelle ihre Fehden aus, es gibt Massenschlägereien und Schießereien, Drogenhandel, Diebstahl und Schutzgelderpressung. Rund 3000 Angehörige von Clans leben in Essen, die meisten haben libanesische Wurzeln. Das Landeskriminalamt in Nordrhein-Westfalen führt mehr als 1200 von ihnen als Tatverdächtige, ein großer Teil der Clanmitglieder in Essen geht also vermutlich einer Karriere als Gangster nach. 

Doch lange Zeit hat sich die nordrhein-westfälische Polizei wenig für die Machenschaften der Sippen interessiert. Während die Strafverfolger in Berlin und Bremen schon länger an dem Phänomen arbeiten, folgten die Beamten im Westen anderen Prioritäten. Hier waren es Mafiosi, Rocker und Neonazis, die als besondere Bedrohung des Rechtsfriedens ausgemacht wurden. Später folgten islamistische Terroristen, nordafrikanische Intensivtäter und Einbrecherbanden.

"Über viele Jahre hinweg sind die Clans in Nordrhein-Westfalen unterschätzt worden – womöglich aus Gründen falsch verstandener Toleranz", sagt der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Erich Rettinghaus. "Diese Zurückhaltung der Polizei haben Kriminelle als Schwäche des Staates interpretiert und immer mehr Grenzen überschritten." Innenminister Herbert Reul (CDU), seit Mitte 2017 im Amt, räumt im Interview mit dem SPIEGEL ein: "Die Politik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu wenig um das Phänomen gekümmert. Wir haben es verpennt."

Im November 2016 startet das Düsseldorfer Landeskriminalamt (LKA) endlich ein Projekt, das die Clans in den Blick nehmen soll: "Kriminalitäts- und Einsatzbrennpunkte geprägt durch ethnisch abgeschottete Subkulturen", heißt es im schönsten Behördendeutsch, kurz "Keeas". In der LKA-Abteilung für organisierte Kriminalität versuchen sich Kriminalisten an einer Definition des Phänomens. Sie wollen beschreiben, mit wem sie es überhaupt zu tun haben, und was sich dagegen machen lässt.

"Clankriminalität" begingen Mitglieder "ethnisch abgeschotteter" Familien, analysiert das LKA, "die unter Missachtung staatlicher Strukturen, der Rechtsordnung und des gesellschaftlichen Werteverständnisses eine eigene, streng hierarchische, delinquente Subkultur" bildeten. Sie akzeptierten kein hoheitliches Handeln, pflegten patriarchische Entscheidungsstrukturen "unter Missachtung der Rechte von Frauen", so steht es in einem vertraulichen Dokument. Sie legten "Toleranz und Kompromissbereitschaft als Schwäche aus", seien "in der Regel bildungsfern" und sähen "Gewalt als akzeptiertes Mittel zur Konfliktlösung" an – ebenso wie sie "Kriminalität als akzeptiertes Mittel zur Entwicklung vermeintlich erfolgreicher Lebensentwürfe" betrachteten.

Laut LKA betätigen sich die Clans im Drogenhandel und in der Geldwäsche. Sie begehen demnach Sozialleistungsbetrug, betreiben Shisha-Bars und kaufen Immobilien in strukturschwachen Gegenden. "Die verstehen uns als Opfergesellschaft", sagt ein erfahrener Ermittler.

Auf einer Konferenz stellte der zuständige LKA-Abteilungsleiter Thomas Jungbluth kürzlich die Ergebnisse seiner Keeas-Studie vor. So geht das LKA derzeit von etwa hundert Clans in NRW aus, wobei es schwerfällt, die verwandtschaftlichen Beziehungen zu erfassen. Selbst die Identität ist oft unklar. Laut Jungbluth gibt es in NRW eine Großfamilie, in der 15 verschiedene Schreibweisen ein und desselben Namens in den behördlichen Datenbanken kursieren. Fünf Prozent der identifizierten Clan-Angehören sind laut Jungbluth staatenlos, 15 Prozent sind dem Pass nach Türken, 31 Prozent Libanesen und 36 Prozent haben die deutsche Staatsangehörigkeit.

Von 2016 bis 2018 sollen etwa 6500 Mitglieder der Clans in NRW rund 14.200 erfasste Straftaten begangen haben. "Das Dunkelfeld dürfte vor dem Hintergrund des Bedrohungspotenzials, der Einschüchterung, der strikten Abschottung und einer gering ausgeprägten Anzeigebereitschaft erheblich sein", so Jungbluth. Ein Drittel der dennoch bekannt gewordenen Straftaten sind laut LKA Gewaltdelikte wie Körperverletzung. Es folgen Betrugs- und Eigentumstaten sowie Drogenhandel. 26 versuchte und vollendete Tötungsdelikte rechnet die Polizei den Clans zu. Ein Hotspot ist Essen. Dort will sich die Polizei dem Thema nun mit der Besonderen Aufbauorganisation (BAO) "Aktionsplan Clans" widmen, in der unter anderem etwa 20 Ermittler Dienst tun.

Die Essener Polizei setzt dabei auf ein Konzept, wie es gegen andere Intensivtäter und Islamisten Anwendung findet: Alle Delikte einer bestimmten Klientel werden zentral bearbeitet, egal um welche Taten es sich handelt. In einem vertraulichen Papier der Polizei heißt es: "Die Bandbreite der Straftaten durch kriminelle Gruppen innerhalb libanesischer Großfamilien bildet das gesamte Spektrum von der Allgemeinkriminalität bis hin zu Schwerstkriminalität ab. Die Delikte, die Modi Operandi und das Nachtatverhalten (u. a. Einschüchterung von Zeugen, Einflussnahme von Familienoberhäuptern) lassen Strukturen krimineller Organisationen erkennen.” Es seien in den vergangenen Jahren "hohe illegale Gelder und Vermögenswerte erwirtschaftet” worden, "die teilweise durch Geldwäsche in legale Wirtschafts- und Finanzkreisläufe (u. a. Betreiben von "Shisha-Bars") eingeschleust wurden.”

Landesweit will die Polizei nun auf mehreren Ebenen gegen die Clans vorgehen: Ständige Kontrollen mit vielen Beamten und in Kooperation mit anderen Behörden wie Zoll, Steuerfahndung und kommunalen Ämtern sollen Nadelstiche setzen. Den öffentlichen Raum sollen Formationen der Bereitschaftspolizei besetzen, die das Geprahle der Szene unterbinden sollen. Und Kriminalbeamte versuchen, in die Strukturen der Clans einzusteigen.

"Es wird sehr lange dauern und eines gewaltigen Kraftakts bedürfen, diese Kriminalität ansatzweise in den Griff zu bekommen", prognostiziert der Vorsitzende des Bund Deutscher Kriminalbeamter, Sebastian Fiedler. "Ich hoffe, dass wir das nötige Durchhaltevermögen haben werden." Die Polizei brauche ausreichend Personal für die aufwendigen, langwierigen und schwierigen Ermittlungen in den Clans. "Der Innenminister wird sich an den Ergebnissen dieser Ermittlungen messen lassen müssen."

Fiedler hält etwa 150 Kriminalisten für nötig, die jahrelang an nichts anderem arbeiten sollten als an den Clans im Ruhrgebiet. Hinzu kommen müssten Experten anderer Behörden, sagt er. Nach SPIEGEL-Informationen sind derzeit landesweit jedoch höchstens 50 Ermittler mit den etwa 100 Clans befasst.

"Wir haben angefangen, wir werden nicht aufhören”, sagt NRW-Innenminister Reul. Doch auch er bezeichnet es als "Mammutaufgabe, den Clans das Handwerk zu legen". Er "glaube nicht”, sagt Reul im SPIEGEL, "dass sich das in den fünf Jahren meiner Amtszeit zu Ende bringen lässt".