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[–]tansim[S] 2 insightful - 1 fun2 insightful - 0 fun3 insightful - 1 fun -  (0 children)

Dennoch gibt es Anhaltspunkte, falsche Erinnerungen zu identifizieren. Nach Ansicht von Rechtspsychologen taucht die Erinnerung an eine traumatische Erfahrung wie sexuellen Missbrauch nicht erst nach Jahrzehnten aus heiterem Himmel auf. Studien zeigen im Gegenteil, dass traumatische Ereignisse besonders gut erinnert werden. Außerdem verändern sich Erinnerungen an traumatische Ereignisse weniger als Erinnerungen an andere Erlebnisse.

Die Tochter aus dem Rhein-Main-Gebiet stellt keine Strafanzeige gegen ihre Eltern. Ihr Vater hätte es sich manchmal gewünscht. "Dann hätte sie aussagen müssen. Ich hätte meine Unschuld nachweisen und vielleicht die Therapeutin konfrontieren können. Wir hätten es anders verarbeiten können." Hätte, hätte.

Er wendet sich an False Memory Deutschland e. V. (FMD). Der Verein hat bislang etwa 300 Eltern beraten, die von ihren Kindern des sexuellen Missbrauchs beschuldigt werden: In den meisten Fällen waren Psychotherapeuten beteiligt, angebliche Erinnerungen auszugraben und wiederzugewinnen. In allen Fällen kamen die Vorwürfe zu einem Zeitpunkt, als die Erziehung längst abgeschlossen war und der vermeintliche Missbrauch Jahrzehnte zurücklag: Die sich als Opfer fühlenden Kinder sind überwiegend zwischen 25 und 50 Jahre alt, sie stammen meist aus behüteten, bürgerlichen Familien, und der Missbrauch soll in den ersten Lebensjahren geschehen sein.

Heide-Marie Cammans, stellvertretende Vorsitzende von FMD, spricht von Kindern, die einen "guten Weg" gegangen und denen zu Hause "gute Werte" vermittelt worden seien, und von Eltern, die angesehene Berufe ausübten – deren Fortsetzung gefährdet sei, wenn der Verdacht eines Kindesmissbrauchs bekannt werde. "Nicht selten bricht die gesamte wirtschaftliche und soziale Existenz der Familie zusammen", sagt Cammans.

"Nicht selten bricht die ganze Existenz zusammen."

Für die Eltern sei es ein Schock, sagt FMD-Vorsitzender Federico Avellán Borgmeyer. Alle wollten ihr Kind zurück. Doch nur in einem einzigen Fall habe sich das Kind wieder der Familie zugewandt. Für die anderen sei die Erinnerung zur Wahrheit geworden. Ein Leben, zu dem der vermeintliche Täter Zugang hat, sei für sie nicht mehr möglich. Die Arbeit des Vereins sei dennoch nicht vergebens. "Zu wissen, dass ich nicht der Einzige bin, dem so etwas widerfahren ist, hat mir das Leben gerettet", sagt der Vater aus dem Rhein-Main-Gebiet.

Scheinerinnerungen spielen nicht nur im Strafrecht, sondern auch im Sozialrecht eine Rolle: Wer in Deutschland als Opfer einer Straftat gesundheitlichen Schaden erleidet, hat durch das Opferentschädigungsgesetz ein Recht auf Hilfe vom Staat. Bedingung: Der Betroffene muss den Nachweis für den erlittenen Schaden erbringen.

Viele Antragsteller legen Berichte ihrer Therapeuten vor, wonach sie Opfer eines sexuellen Missbrauchs gewesen seien, den sie erst Jahrzehnte später erinnert hätten. Sie beantragen Entschädigung für psychische Störungen, die sie infolge des Missbrauchs entwickelt hätten. Rechtspsychologe Steller sagt: "Missbrauch wird zwar häufig verschwiegen, aber Missbrauch vergisst man nicht." Dennoch hat er beobachtet, dass dem Entschädigungsantrag häufig stattgegeben werde.

Seit 2013 gibt es vom Familienministerium zudem den "Fonds sexueller Missbrauch". Steller berichtet von einem Mann, der angab, er sei sexuell missbraucht worden, könne sich an diesen nicht erinnern, vermute ihn aber. Sein Antrag wurde abgelehnt mit dem Hinweis, er solle zur Aufarbeitung des vermuteten Missbrauchs Psychotherapie in Anspruch nehmen. Für den Fall, dass sich die Vermutung bestätige, könne er erneut einen Antrag stellen. So geschah es, und der Antrag wurde bewilligt.

Die Familien, in denen eine Person durch Scheinerinnerung beschuldigt wird, erleiden auch ohne rechtliche Auseinandersetzung eine Katastrophe. "Du verlierst ein Kind – obwohl es noch lebt", sagt der Vater aus dem Rhein-Main-Gebiet.

Der einzige Trost für ihn und die Mutter der jungen Frau sei gewesen, sich einzureden, dass es ihrer Tochter nun vielleicht besser gehe, dass der Glaube an einen vermeintlichen Missbrauch durch den eigenen Vater ihr Erklärungen biete, auf die sie ein neues Leben aufbauen könne. Der Vater sagte zur Mutter: "Dann haben wir einen hohen Preis gezahlt, aber ihr geht es gut."

Doch der Tochter geht es, wie die Eltern erfahren haben, nicht gut. "Sie steht da, wo sie immer stand", sagt der Vater. "Nur können wir ihr jetzt noch weniger helfen."