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Dabei sei das Problem der Falscherinnerungen in Gerichtsverfahren seit Langem bekannt, sagt die rechtspsychologische Wissenschaftlerin Renate Volbert. Deshalb gäben erfahrene Strafjuristen im Zweifelsfall ein aussagepsychologisches Gutachten in Auftrag. Auch Volbert sieht die Gefahr, dass Scheinerinnerungen unterschätzt und wegen der hohen subjektiven Überzeugung eines Zeugen in einer Vernehmung nicht erkannt werden.

Um echte von falschen Erinnerungen zu unterscheiden, akzeptieren Gerichte seit den Neunzigern die aussagepsychologische Methodik und deren Kriterien als Beweismittel. In einem Urteil von 1999 legte der Bundesgerichtshof endlich Qualitätsanforderungen an aussagepsychologische Gutachten fest. Dabei geht es um die Glaubhaftigkeit, den Realitätsgehalt, die Erlebnisgrundlage einer Aussage: Die Sachverständigen rekonstruieren und analysieren die Entstehung und den Verlauf der Aussage. Hat sie sich im Laufe der Zeit verändert? Wie detailreich und in sich stimmig ist sie? Könnte sie das Resultat einer Therapie sein? War die Befragung neutral und ergebnisoffen, oder könnte es zur Suggestion eines Erlebnisses gekommen sein? Könnten sich die Zeugen den Vorfall gar ausgedacht haben?

Oft lassen Menschen sich nicht von ihrer Überzeugung abbringen, dass ihnen Schlimmes widerfahren ist. "Manche Menschen suchen über lange Zeit immer weiter nach neuen, bislang nicht zugänglichen Erinnerungen", sagt Volbert.

Die Tochter, die den Vater aus dem Rhein-Main-Gebiet des Missbrauchs bezichtigt, war eine zielstrebige Schülerin, die zweitbeste ihres Jahrgangs, Einser-Abitur. Sie begann zu studieren, Mathematik, Literaturwissenschaft, Philosophie, Sinologie. Sie fing vieles an und machte nichts zu Ende. Sie tat sich schwer mit dem Leben. "Sie fühlte sich wie ein verlorenes Elektron im Universum", sagt der Vater. "Sie wollte immer anders sein." Ihre Freunde zogen an ihr vorbei, sie fühlte sich irgendwann abgehängt, minderwertig und suchte Hilfe bei Psychotherapeuten, doch keiner konnte helfen. Ihre Eltern unterstützten sie. Bis sie mit 26 Jahren nach Berlin ging, sie wollte nun auf eigenen Beinen stehen, Geld verdienen.

Als sie ihren Vater beim Spaziergang im Park anklagt, spricht sie mit fester Stimme, voller Überzeugung. "Mama hat das toleriert", sagt sie. "Sie wusste davon. Sie hat mich nicht beschützt." Für den Vater ist es der letzte Beweis: Die Tochter kann nicht ihn meinen. Nie hätte die Mutter das geduldet. Er spürt, dass seine Tochter fest an diesen Missbrauch glaubt. "Vielleicht ist dir etwas passiert", sagt er. "Aber ich war es nicht, vielleicht jemand anderes?" Die Tochter schüttelt den Kopf. "Nein, Papa. Das warst du, du verdrängst es einfach."

Ihre neue Therapeutin in Berlin, eine promovierte Psychologin, spezialisiert auf Psychotraumata, habe ihr dabei geholfen, das herauszufinden. Bis zum Beginn der Therapie habe sie selbst nichts von einem Missbrauch gewusst, sagt die Tochter und jongliert mit Fachbegriffen. Die Therapeutin habe mit Familienaufstellung, Hypnose und mit "Avataren", einer Art zweitem Ich, an der Aufdeckung gearbeitet. Mithilfe des Avatars habe die Tochter ein schwarzes Zimmer betreten, in dem jemand sie "Kleines" genannt habe. "So wie du mich nennst, Papa." Das sei der Beweis.

Für Rechtspsychologin Volbert ist eine explizite Erinnerungssuche, die intensive Beschäftigung mit einer möglichen Traumatisierung, ein Merkmal für eine mögliche Scheinerinnerung. Oft entwickelten die Betroffenen dazu Bilder, die sie an ihre Gefühle und Erinnerungsinseln anpassten, bis alles stimmig zu sein scheine. Ein weiteres Merkmal sei der Einsatz von Imaginations- und Visualisierungstechniken, um die Ursachen eines Traumas zu ergründen: Hypnose könne fiktive Vorstellungen erzeugen, die so intensiv erlebt würden, dass sie sich zu falschen Erinnerungen verfestigten.

Falscherinnerungen im Gerichtssaal sind eine sehr reale Gefahr für die Wahrheitsfindung. Axel Wendler, der ehemalige Richter, erinnert sich an die Zeugin in einem Oldenburger Mordprozess, die behauptete, im Alter von neun Jahren die Tötung ihres Cousins beobachtet zu haben. Sie war sicher: Die Täterin war ihre Tante, die Mutter des Jungen. Die Zeugin wurde mehrfach vernommen. "Sie dramatisierte immer mehr ihre eigene Rolle in dem Fall, sie lebte sich immer mehr hinein", sagt Wendler. Da keimten in ihm Zweifel auf.

Max Steller, der Aussagepsychologe, hatte der Aussage dieser Hauptbelastungszeugin im Mordprozess trotz erheblicher Zweifel zunächst Glaubhaftigkeit bestätigt, da sie tatbezogenes Wissen offenbart habe. Er revidierte sein Gutachten, nachdem sich herausgestellt hatte, dass sie Details zur Tat wohl in den Vernehmungen erfahren hatte und das Einkaufszentrum, durch das die Zeugin der Tante gefolgt sein wollte, zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht existierte. Steller schloss daraus, dass die Frau auf der Suche nach der Ursache ihrer Borderline-Erkrankung die angeblichen Mordbeobachtungen konstruiert hatte.

Personen, die sich in Scheinerinnerungen verlieren, sind oft labil, leiden an psychischen Störungen und haben Brüche in ihrem Leben. Die Überzeugung, Opfer eines sexuellen Missbrauchs oder Augenzeugin eines Mordes gewesen zu sein, liefert ihnen einen Grund für ihr Seelenleid, ihre gescheiterte Biografie, ihre Misere, ihr Versagen. Oder, wie es der Berliner Psychotherapeut Hans Stoffels genannt hat: Es stille ihre "Sehnsucht", Traumaopfer zu sein.

Das Verheerende ist: Die Betroffenen verlassen sich auf ihre neu gewonnenen Erinnerungen, sie glauben sich selbst. Und viele glauben ihnen – warum sollte auch jemand Derartiges falsch behaupten?

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Dennoch gibt es Anhaltspunkte, falsche Erinnerungen zu identifizieren. Nach Ansicht von Rechtspsychologen taucht die Erinnerung an eine traumatische Erfahrung wie sexuellen Missbrauch nicht erst nach Jahrzehnten aus heiterem Himmel auf. Studien zeigen im Gegenteil, dass traumatische Ereignisse besonders gut erinnert werden. Außerdem verändern sich Erinnerungen an traumatische Ereignisse weniger als Erinnerungen an andere Erlebnisse.

Die Tochter aus dem Rhein-Main-Gebiet stellt keine Strafanzeige gegen ihre Eltern. Ihr Vater hätte es sich manchmal gewünscht. "Dann hätte sie aussagen müssen. Ich hätte meine Unschuld nachweisen und vielleicht die Therapeutin konfrontieren können. Wir hätten es anders verarbeiten können." Hätte, hätte.

Er wendet sich an False Memory Deutschland e. V. (FMD). Der Verein hat bislang etwa 300 Eltern beraten, die von ihren Kindern des sexuellen Missbrauchs beschuldigt werden: In den meisten Fällen waren Psychotherapeuten beteiligt, angebliche Erinnerungen auszugraben und wiederzugewinnen. In allen Fällen kamen die Vorwürfe zu einem Zeitpunkt, als die Erziehung längst abgeschlossen war und der vermeintliche Missbrauch Jahrzehnte zurücklag: Die sich als Opfer fühlenden Kinder sind überwiegend zwischen 25 und 50 Jahre alt, sie stammen meist aus behüteten, bürgerlichen Familien, und der Missbrauch soll in den ersten Lebensjahren geschehen sein.

Heide-Marie Cammans, stellvertretende Vorsitzende von FMD, spricht von Kindern, die einen "guten Weg" gegangen und denen zu Hause "gute Werte" vermittelt worden seien, und von Eltern, die angesehene Berufe ausübten – deren Fortsetzung gefährdet sei, wenn der Verdacht eines Kindesmissbrauchs bekannt werde. "Nicht selten bricht die gesamte wirtschaftliche und soziale Existenz der Familie zusammen", sagt Cammans.

"Nicht selten bricht die ganze Existenz zusammen."

Für die Eltern sei es ein Schock, sagt FMD-Vorsitzender Federico Avellán Borgmeyer. Alle wollten ihr Kind zurück. Doch nur in einem einzigen Fall habe sich das Kind wieder der Familie zugewandt. Für die anderen sei die Erinnerung zur Wahrheit geworden. Ein Leben, zu dem der vermeintliche Täter Zugang hat, sei für sie nicht mehr möglich. Die Arbeit des Vereins sei dennoch nicht vergebens. "Zu wissen, dass ich nicht der Einzige bin, dem so etwas widerfahren ist, hat mir das Leben gerettet", sagt der Vater aus dem Rhein-Main-Gebiet.

Scheinerinnerungen spielen nicht nur im Strafrecht, sondern auch im Sozialrecht eine Rolle: Wer in Deutschland als Opfer einer Straftat gesundheitlichen Schaden erleidet, hat durch das Opferentschädigungsgesetz ein Recht auf Hilfe vom Staat. Bedingung: Der Betroffene muss den Nachweis für den erlittenen Schaden erbringen.

Viele Antragsteller legen Berichte ihrer Therapeuten vor, wonach sie Opfer eines sexuellen Missbrauchs gewesen seien, den sie erst Jahrzehnte später erinnert hätten. Sie beantragen Entschädigung für psychische Störungen, die sie infolge des Missbrauchs entwickelt hätten. Rechtspsychologe Steller sagt: "Missbrauch wird zwar häufig verschwiegen, aber Missbrauch vergisst man nicht." Dennoch hat er beobachtet, dass dem Entschädigungsantrag häufig stattgegeben werde.

Seit 2013 gibt es vom Familienministerium zudem den "Fonds sexueller Missbrauch". Steller berichtet von einem Mann, der angab, er sei sexuell missbraucht worden, könne sich an diesen nicht erinnern, vermute ihn aber. Sein Antrag wurde abgelehnt mit dem Hinweis, er solle zur Aufarbeitung des vermuteten Missbrauchs Psychotherapie in Anspruch nehmen. Für den Fall, dass sich die Vermutung bestätige, könne er erneut einen Antrag stellen. So geschah es, und der Antrag wurde bewilligt.

Die Familien, in denen eine Person durch Scheinerinnerung beschuldigt wird, erleiden auch ohne rechtliche Auseinandersetzung eine Katastrophe. "Du verlierst ein Kind – obwohl es noch lebt", sagt der Vater aus dem Rhein-Main-Gebiet.

Der einzige Trost für ihn und die Mutter der jungen Frau sei gewesen, sich einzureden, dass es ihrer Tochter nun vielleicht besser gehe, dass der Glaube an einen vermeintlichen Missbrauch durch den eigenen Vater ihr Erklärungen biete, auf die sie ein neues Leben aufbauen könne. Der Vater sagte zur Mutter: "Dann haben wir einen hohen Preis gezahlt, aber ihr geht es gut."

Doch der Tochter geht es, wie die Eltern erfahren haben, nicht gut. "Sie steht da, wo sie immer stand", sagt der Vater. "Nur können wir ihr jetzt noch weniger helfen."