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Der gekränkte Mensch Heute will jeder Opfer sein. Das gefährdet die westlichen Demokratien, schreibt Francis Fukuyama in seinem neuen Buch "Identität". Er setzt dagegen auf Leitkultur und stolzes Miteinander. Eine Rezension von Maria-Sibylla Lotter

In seinem Essay Das Ende der Geschichte von 1989 beschrieb der damals noch den Republikanern nahestehende amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama die Geschichte als einen Siegeszug der Demokratie. Der historische Prozess folgt dabei nicht etwa einer ökonomischen Logik, wie Marx glaubte. Vielmehr versteht Fukuyama bis heute – unter Berufung auf Platons Begriff des Thymos und Hegels Analyse des Kampfes um Anerkennung – das menschliche Bedürfnis nach Würde als eine Triebfeder der Geschichte. Die Demokratie werde sich in the long run als Regierungsform überall durchsetzen, weil allein sie durch den Schutz individueller Rechte und Freiheiten das menschliche Bedürfnis nach Würde garantieren könne.

Mittlerweile haben sich nicht nur die politischen Sympathien Fukuyamas nach links verschoben, auch sein Optimismus ist in seinem neuesten Buch einer viel skeptischeren Haltung gewichen, was schon der deutsche Titel Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet anzeigt. Fukuyama geht jetzt von der Tatsache aus, dass die Tendenz zur Ausbreitung liberaler Demokratien (35 in den frühen Siebzigern, 110 im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts) seit Kurzem rückläufig ist. Gleichzeitig nahm der Einfluss autoritärer Staaten wie China und Russland zu. In den westlichen Demokratien schwindet der demokratische Konsens zwischen den Parteien. Wie erklärt sich diese Entwicklung, die es nicht mehr undenkbar erscheinen lässt, dass sich in the long run nicht die Demokratie, sondern eine Art chinesische Kombination von Kapitalismus und autoritärem Nationalismus durchsetzen könnte? Fukuyama verweist auf die Schattenseiten des globalen Wachstums, das die ökonomische Ungleichheit innerhalb der hoch entwickelten Demokratien dramatisch verstärkte. DIE ZEIT 8/2019 Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 08/2019. Hier können Sie die gesamte Ausgabe lesen.

In der Hauptsache setzt sich Fukuyama jedoch mit einer weltweiten Entwicklung auseinander, die er als Identitätspolitik bezeichnet. Menschen finden sich auf der ganzen Welt immer weniger mit undemokratischen Verhältnissen ab, in denen sie paternalistisch und respektlos behandelt werden, und greifen zur Gewalt, ohne damit schon die politischen Verhältnisse in eine demokratische Richtung lenken zu können. So führte die Solidarisierung von Menschen in der arabischen Welt nach dem Suizid eines tunesischen Gemüsehändlers, der sich von der Polizei entwürdigend behandelt sah und sich öffentlich verbrannte, zum Arabischen Frühling. Der trug aber letztlich nur wenig zur Demokratisierung bei, weil die empörten Menschen sich nicht auf politische Ziele einigen konnten. Oft richten sich Aufwallungen von Empörung über mangelnden Respekt auch nicht gegen die Regierung, sondern gegen andere Bevölkerungsgruppen. Die neuen weltweiten Konflikte zwischen Gruppen sind dabei für Fukuyama weniger aus realen kulturellen oder religiösen Differenzen erklärbar als aus den desintegrierenden Folgen ihrer Auflösung und in der Suche nach Sinn in einer neuen Identität, die einem Würde und Bedeutung verleiht.

Fukuyama weist darauf hin, dass die politische Wirkung von Gefühlen wie denen des Tunesiers in den westlichen Ländern unterschätzt wird, weil sie wenig in das moderne Menschenbild passen. Solche Handlungen sind durch Scham oder Zorn in Verbindung mit Demütigungen motiviert. Ob sich dieser Zorn konstruktiv oder destruktiv auswirkt, hängt ganz davon ab, ob die ersehnte Anerkennung politisch realisierbar ist oder sich an Denk- und Verhaltensmuster bindet, die dazu führen, dass sich wiederum andere in ihrem Selbstwert beeinträchtigt fühlen – was endlose Kämpfe nach sich zieht.

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Letzteres ist Fukuyama zufolge in den USA passiert, als Spätwirkung von Entwicklungen, die mit den Protesten benachteiligter Gruppen begannen. Dabei hatten diese Bewegungen Gleichberechtigung und Chancengleichheit angestrebt und damit die demokratische Kultur gestärkt. Die Schwulenbewegung hat nicht nur eine Änderung der Gesetzgebung, sondern auch eine Akzeptanz von Homosexualität im öffentlichen Raum erzwungen. Die schwarze Bürgerrechtsbewegung bis hin zur Black-Lives-Matter-Bewegung hat sich in den USA gegen die rassistische Ungleichbehandlung eingesetzt und ein neues Bewusstsein für alltäglichen Rassismus erzeugt. Die Frauenbewegung bis hin zur #MeToo-Debatte hat nicht nur die Gleichberechtigung und Chancengleichheit für Frauen eingeklagt, sondern auch entwürdigende Arbeits- und sexuelle Ausbeutungsverhältnisse angeprangert und so für die Wahrnehmung von sexistischem Verhalten sensibilisiert, das noch vor 30 Jahren als normal galt. Maria-Sibylla Lotter

Die Philosophin ist Professorin für Ethik und Ästhetik an der Universität Bochum.

Als Gefahr für die westlichen Demokratien betrachtet Fukuyama nicht das Verlangen nach Würde und Gleichberechtigung, das solche Bewegungen antreibt. Diese Faktoren können eine Demokratie langfristig stärken. Er kritisiert vielmehr eine zunehmende Neigung der Parteien, sich als Vertreter nicht mehr des Ganzen, sondern spezieller Gruppen zu betrachten, die durch Opfernarrative Zorn aufbauen, der sich gegen andere Gruppen richtet. Kurioserweise wird in diesem Zusammenhang Fukuyamas Interpretation des platonischen Begriffs Thymos politisch instrumentalisiert. Über Peter Sloterdijk kam dessen Schüler Marc Jongen, AfD-Bundestagsabgeordneter, auf die skurrile Idee, dass man diese Kraft für die rechte deutsche Bewegung nutzen könnte. Seitdem ist von einer "thymotischen Unterversorgung" der Deutschen die Rede. Offenbar stellt sich Jongen unter dem Thymos eine Art Vitaminpille vor, die nach Einnahme die nächste Pegida-Demo mit Teilnehmern versorgt.

Diese Entwicklung ist aber kein spezifisch rechtes Phänomen. Schon Kwame Anthony Appiah, Mark Lilla und andere US-Intellektuelle haben die neue amerikanische Empörungskultur kritisiert, die der Neigung von Gruppen entspringt, sich mit Narrativen der Ausgrenzung oder Benachteiligung zu identifizieren und eine gegen andere Gruppen gerichtete Wut zu kultivieren, die politische Auseinandersetzungen durch einen anklagenden Ton der moralischen Superiorität vergiftet. Appiah und Fukuyama erklären sich auch diese Entwicklung aus der Suche nach Identität: Opfernarrative verbinden Menschen, die sich ansonsten in Sprache, Gewohnheiten und normativen Vorstellungen oft mehr untereinander als von jenen unterscheiden, von denen sie sich abgrenzen. Die Geschichte der Sklaverei etwa kann als verbindendes Narrativ ein Gefühl von Zusammengehörigkeit zwischen dunkelhäutigen Menschen verschiedener Klassen stiften. Darüber hinaus übernehmen Narrative gemeinsamer Ausgrenzungserfahrungen eine sinnstiftende Funktion. Der von Rousseau auf das Individuum bezogene Gedanke eines authentischen Ich, das sich gegen eine Gesellschaft wehren muss, die es seiner selbst entfremdet, wurde zunehmend auf die Gruppe übertragen und mit der Idee eines gemeinsamen, Außenstehenden nicht zugänglichen Erlebens verbunden. Daraus hat sich eine Mentalität der Exklusivität und Abgrenzung entwickelt, die Fukuyama als neuen Tribalismus bezeichnet. Was hilft in dieser verzwickten Situation?

Verstärkt wird diese Tendenz durch die politischen Parteien. Das hatte sich in den USA schon seit den Achtzigerjahren abgezeichnet, als die politische Linke es weitgehend aufgab, sich für eine gerechtere Verteilung einzusetzen, und sich stattdessen darauf verlegte, die Anliegen soziokulturell benachteiligter und marginalisierter Gruppen von Frauen, Schwarzen, Homosexuellen, Flüchtlingen, Immigranten und überhaupt ethnischen Minoritäten zu vertreten. Die Vorstellung, dass ein Opferstatus moralische Überlegenheit verleiht, hat eine speziell amerikanische Geschichte, die auf die schwarze Bürgerrechtsbewegung zurückgeht. Ihr Vorbild lieferte Gandhi mit der grandiosen Strategie des gewaltlosen Widerstands, bei dem die Opfer von Gewalt und Unterdrückung aufgrund des Verzichts auf Gegenaggression moralische Überlegenheit über die Angreifer gewinnen. Diese dann auch von Martin Luther King erfolgreich kultivierte Strategie verlieh dem Status des Opfers eine genuin moralische Aura. Politik, die versucht, sich diese Aura zu sichern, indem sie sich auf die Vertretung von benachteiligten Gruppen spezialisiert, erzeugt jedoch neue Opfergruppen, die sich ausgeschlossen fühlen. Schon der Philosoph Richard Rorty hatte 1998 beklagt, dass die neue Linke bei ihrem Einsatz für benachteiligte Gruppen nicht wahrnimmt, wie andere Bürger, insbesondere aus der weißen Arbeiterschicht und unteren Mittelschicht, aufgrund der Globalisierung Arbeitsplatz und Status verloren. Das führt dazu, dass diese sich ebenfalls als Opfer betrachten und anfällig für nationalistische Erklärungen ihres Statusverlusts werden. So kam es zur politischen "Opferolympiade": Denn auch der Mainstream der neuen Rechten definiert sich mittlerweile nach den Paradigmen der Identitätspolitik als Opfer und fordert den patriotischen Schutz der nationalen Identität. Diese Identität wird nicht mehr nur an die Rasse, die Religion oder die ethnische Herkunft, sondern auch an die Kultur (so in der Identitären Bewegung) geknüpft.

Das mögen alles fiktive, oft krude zusammengestrickte Identitäten sein, wie François Jullien 2017 in seinem Buch Es gibt keine kulturelle Identität zu Recht einwendet. Aber darauf kommt es nicht an. Denn politisch wirksam ist der Wunsch nach Identität und Abgrenzung. Identitäten werden durch Konflikte konstruiert, wie Appiah in seinem Buch The Lies That Bind zeigt. Wenn man einmal davon absieht, welche Gruppen und welche Fiktion von Identität jeweils Vorrang genießen, dann erkennt man, dass Rechte und Linke nach ähnlichen Mustern agieren. Das führt nun paradoxerweise dazu, dass auch in demokratischen Gesellschaften, die sich ja auf eine die Parteien und Gruppen verbindende Tradition von demokratischen Werten stützen können, der Grundkonsens zu schwinden droht. Was hilft in dieser verzwickten Situation?

Nach Fukuyama jedenfalls nicht der Verzicht auf nationale Identität, sondern ihre Stärkung, jedenfalls solange die EU noch nicht als demokratisch legitimierte Identifikationseinheit funktioniert. Die Einführung eines verpflichtenden Gemeinschaftsdienstes schwebt ihm zum Beispiel vor. Nationale Identität soll bei ihm keinesfalls völkisch verstanden werden, sondern als eine kulturell verankerte Rechts- und Werteordnung. Ähnlich wie einst der Jurist Ernst-Wolfgang Böckenförde argumentiert Fukuyama, dass Demokratien nicht allein durch das Recht erhalten werden können, sondern auf eine lebendige demokratische Kultur angewiesen sind, die das Bedürfnis nach Würde und Stolz befriedigen kann. Dabei beruft er sich auf den deutschen Politikwissenschaftler Bassam Tibi, der vor 20 Jahren für eine – heftig missverstandene – Leitkultur als Grundlage eines kollektiven nationalen und europäischen Selbstverständnisses warb. Tibi lag nichts ferner als der kuriose Gedanke der Erhebung völkischer Eigentümlichkeiten zu einer höher bewerteten Superkultur. Ganz im Gegenteil: Er forderte, jene kulturspezifischen Werte – ob nun aus deutschen, türkischen, syrischen oder sonstigen Traditionen –, die weder notwendig sind für eine demokratische Kultur noch von Menschen anderer Kulturen erwartet werden können, zurückzustellen hinter eine gemeinsame Pflege von Werten und Haltungen, die sich praktisch als Grundlage einer Einwanderergesellschaft eignen. Dieser Prozess könnte ein gemeinsames nationales oder europäisches Selbstverständnis befördern, weil man auf diese Werte stolz sein kann: stolz, weil sie eine erfahrbare Qualität des kultivierten Zusammenlebens bedeuten und ihre Pflege eine schwer zu erringende Kulturleistung darstellt.

Was Fukuyama beschreibt, ist nach den vielen identitätspolitischen Diskussionen der letzten Zeit nicht ganz neu. Jedoch gelingt es ihm überzeugend, die globale Dimension der Identitätsproblematik zu erfassen und dabei die ökonomischen Faktoren mit den politischen Emotionen in Beziehung zu setzen. Er erklärt, wie es dazu kommt, dass ausgerechnet zu einer Zeit, in der die Einkommensunterschiede in den westlichen Demokratien immer weiter auseinanderklaffen und der Einfluss der Superreichen in den USA das demokratische System unterminiert, die Linke sich stattdessen mit Mea-Culpa-Ritualen beschäftigt und Dramen der Political Correctness aufführt.