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Niedriglohn - Helfen die SPD-Pläne wirklich gegen Benachteiligung? Exklusiv für Abonnenten Der Niedriglohnsektor ist die größte Schwachstelle unseres Sozialstaats. Die Parteien, vor allem die SPD, haben das lange ignoriert. Nun soll jenen geholfen werden, die hart arbeiten, aber wenig verdienen. Doch jede Lösung schafft neue Ungerechtigkeit. Von Lisa Becke, Florian Diekmann, Ralf Neukirch, Michael Sauga, Cornelia Schmergal 15. Februar 2019

Sie arbeiten acht Stunden am Tag – und haben am Monatsende doch kaum mehr auf dem Konto als ein Hartz-IV-Empfänger. Oft werden jahrzehntelang fast 40 Prozent ihrer Bruttolöhne als Beiträge an die Sozialkassen abgeführt. Doch wenn sie arbeitslos werden oder in Rente gehen, fallen sie nicht selten in die Grundsicherung.

Anders gesagt: Wer wenig verdient, hat vom deutschen Sozialstaat nicht viel zu erwarten – außer der Verpflichtung, ihn kräftig mitzufinanzieren.

Fast ein Viertel der Beschäftigten, mehr als sieben Millionen, arbeitet im Niedriglohnsektor; eine zehnmal so hohe Quote wie in Schweden. Sie spülen in Kantinenküchen oder schlachten in Fleischhallen, sie reinigen Büros oder tragen Pakete aus, zu Minilöhnen von unter elf Euro, oft ohne den Schutz von Tarifverträgen und Betriebsräten und meist mit dem Gefühl, ausgebeutet zu werden. Die damalige Regierung unter Gerhard Schröder (SPD) baute diesen Niedriglohnsektor aus und schuf damit zugleich eine neue soziale Frage.

Nun will die SPD jenen Beschäftigten zu Hilfe kommen, die hart arbeiten, aber wenig verdienen. Vergangene Woche legte Parteichefin Andrea Nahles Pläne für eine weitreichende Reform vor. Die Renten von Geringverdienern sollen aufgestockt, der Mindestlohn erhöht und das Arbeitslosengeld für ältere Beschäftigte länger ausgezahlt werden. Sind die Vorstöße geeignet, Deutschlands Sozialsystem gerechter zu machen?

Die Frage hat eine aufgeregte Debatte ausgelöst, unter Experten, Betroffenen und in der Berliner Politik. Schließlich waren es die umstrittenen Agendagesetze nach der Jahrtausendwende, die den sozialen Frust im Land vergrößert hatten. Nicht nur in Ostdeutschland, wo sich zeitweise mehr als 40 Prozent der Beschäftigten mit Minilöhnen bescheiden mussten. Sondern auch in den besser gestellten Mittelschichtsregionen des Westens, in denen nun viele fürchteten, beim Verlust des Arbeitsplatzes ebenfalls in die Niedriglohnfalle zu rutschen. Von verbreiteter "Abstiegsangst" sprachen die Soziologen, von der nach einer Studie der gewerkschaftseigenen Hans-Böckler-Stiftung vor allem die AfD profitierte.

Die etablierten Parteien dagegen hatten dem Heer der Minijobber und Kleinverdiener kaum etwas anzubieten. Je mehr sich der prekäre Beschäftigungssektor ausdehnte, desto intensiver kümmerten sich SPD und Union um die besser verdienenden Facharbeiter- und Angestelltenschichten. Grüne und Linkspartei wiederum machten eher die Aufstockung der Hartz-IV-Gelder zu ihrem Programm, was viele der hart arbeitenden Kleinverdiener erst recht empörte.

Kein Wunder, dass sich viele Niedriglöhner wirtschaftlich wie politisch abgehängt fühlen. Zum Beispiel Doris Kolberg, eine 48-jährige Gastronomiehelferin aus Berlin. Mit 16 hat sie die Hauptschule verlassen und seither meist zum Mindestlohn gejobbt, hinter der Theke oder in der Küche, als Kellnerin in Eiscafés, Restaurants, Bars, Hotels.

Immer wieder musste die alleinerziehende Mutter von drei Kindern ihr schmales Gehalt vom Sozialamt aufstocken lassen. Als einer ihrer Söhne zum Vater zog, zwang die Behörde sie, ihre Vierzimmerwohnung im Stadtteil Neukölln aufzugeben – ihre Bleibe war nun größer, als die Vorschriften erlaubten. "Ich musste eine neue Schule suchen", klagt sie. "War das wirklich nötig?"

Das Vorhaben aus dem neuen SPD-Programm, Geringverdienern mit mindestens 35 Versicherungsjahren die Rente aufzustocken, findet sie richtig. Sie selbst allerdings hätte nichts davon. Weil sie jahrelang in sozialversicherungsfreien Minijobs gearbeitet hat, stehen auf ihrem Rentenkonto nur wenige Beitragsjahre. Um die Voraussetzungen für die geplante Grundrente zu erfüllen, müsste sie sich also einen Job suchen, mit dem sie noch jenseits der siebzig berufstätig sein kann. Kolberg zieht ein bitteres Fazit. "Ich habe Zeit meines Lebens gearbeitet", sagt sie, "und habe am Ende nichts davon."

Ihr Schicksal ist typisch für ein Sozialsystem, dessen Grundstruktur aus längst vergangenen Jahrzehnten stammt, als viele Beschäftigte lange Jahre im selben Industriebetrieb angestellt und die Lohnunterschiede meist gering waren.

Heute dagegen klafft eine große Lücke zwischen den Bezügen von Niedrig- und Besserverdienern. Und weil die Rente umso üppiger ausfällt, je mehr und je länger Beiträge gezahlt wurden, zeigt sich diese Schere auch im Alter.

Man kann das "leistungsgerecht" nennen, wie es viele Verteidiger des etablierten Rentensystems tun. Man kann darin aber auch eine systematische Benachteiligung von Geringverdienern sehen, wie die Bundesregierung im vergangenen Jahr vorgerechnet hat. Wer nach 45 Arbeitsjahren auf eine Rente über der Grundsicherung kommen will, muss heute mindestens 12,63 Euro pro Stunde in Vollzeit verdienen. Für viele Beschäftigte im Einzelhandel, in der Gastronomie oder der Kurierbranche ist das pure Utopie; und so kommt es, dass der gigantische Sozialetat der Republik von aktuell fast einer Billion Euro nur zu einem Bruchteil Geringverdienern zugutekommt.

Die Misere ist den Experten lange bekannt, nicht zuletzt jenen in Union und SPD. Dennoch haben die Volksparteien jahrelang nur wenig dagegen unternommen, weil es ihnen wichtiger war, die besser verdienenden Teile ihrer Stammwählerschaft zu bedienen. So baute die CSU in den jüngsten Legislaturperioden die Mütterrente aus (jährliche Kosten: rund elf Milliarden Euro), eine Leistung, die nur die vergleichsweise Gutsituierten auch behalten dürfen. Seniorinnen, die auf die staatliche Grundsicherung angewiesen sind, müssen sie dagegen mit der Stütze verrechnen. Die SPD wiederum setzte sich vor allem für die Rente mit 63 ein, die zwischen 2014 und 2016 insgesamt mehr als sechs Milliarden Euro verschlang und vor allem der gut ausgebildeten männlichen Industriearbeiterschaft zugutekam, einer der Kernzielgruppen der Sozialdemokratie.

Kleinverdiener besserzustellen kam den großen Parteien auch deshalb lange nicht in den Sinn, weil der Niedriglohnsektor vielen Ökonomen lange als Teil der Lösung und nicht des Problems erschien. Durch die Folgen von Globalisierung und deutscher Einheit waren in den Neunzigerjahren gut bezahlte Jobs verloren gegangen. Die Arbeitslosenzahl stieg auf fast fünf Millionen, die Sozialkassen bluteten aus, Deutschland galt als "kranker Mann Europas".

Die Hartz-Reformen sollten diesen Trend stoppen, doch sie hatten ihren Preis. Der Niedriglohnsektor, der schon zuvor zugelegt hatte, wuchs weiter – auf zeitweise über 24 Prozent aller Beschäftigten. Das aber galt damals als lässliche Sünde. "Lieber Arbeit als Arbeitslosigkeit finanzieren" lautete das Schlagwort.

Dass der Niedriglohnsektor im deutschen Sozialsystem neue Gerechtigkeitsprobleme schafft, wollte kaum jemand sehen. Nur halbherzig fielen deshalb die Versuche aus, das Wachstum des neuen Dienstleistungsprekariats durch politische Eingriffe zu bremsen.

Beispiel Mindestlohn. Heute gilt es vielen als grundlegender Konstruktionsfehler der Agenda-Gesetze, ihn nicht schon 2005 in Kraft gesetzt zu haben, zeitgleich mit der Hartz-IV-Reform. Doch selbst die Gewerkschaften kämpften damals kaum für das Projekt, weil sie um ihr Monopol bei der Lohnfestsetzung fürchteten.

So wurde die einheitliche, flächendeckende Lohnuntergrenze erst im Jahr 2015 eingeführt, zehn Jahre zu spät und mit 8,50 Euro auf einem deutlich niedrigeren Niveau als in den meisten europäischen Nachbarländern. Wenig verwunderlich deshalb, dass der Anteil der Niedriglöhner seit Jahren auf hohem Niveau stagniert.

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Noch dürftiger fielen die Ergebnisse bei den Versuchen aus, Geringverdiener bei der Rente besserzustellen. Fast alle Regierungen der vergangenen zwei Jahrzehnte hatten das Thema im Programm, setzten Kommissionen ein oder erarbeiteten Grundsatzpapiere. Heraus aber kam nie etwas, weil sich die Parteien im Klein-Klein von Konzepten verhedderten, die klangvolle Namen wie Zuschussrente oder Solidarrente trugen. In der tiefsten Krise ihrer Nachkriegsgeschichte will die SPD nun mit ihrem Sozialstaatskonzept einen neuen Anlauf wagen, den "Niedriglohnsektor eindämmen" und "mehr Respekt vor der Lebensleistung des Einzelnen" schaffen, wie es in ihrem Papier heißt. Einen PR-Erfolg hat die Partei bereits erzielt. Doch ob sie den Betroffenen wirklich helfen und die Gerechtigkeitsdefizite verringern kann?

Die Minijobberin Kolberg ist da genauso skeptisch wie zahlreiche Experten: Vieles im SPD-Plan steht nur auf dem Papier, manches ist halbgar, und in einigen Punkten läuft die Partei Gefahr, über das Ziel hinauszuschießen.

Das gilt etwa für die Ankündigung, den Mindestlohn zumindest perspektivisch auf zwölf Euro anzuheben. Die Marke, warnt Holger Bonin, Arbeitsmarktforscher beim Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA), berge erhebliche Gefahren. Werde die Lohngrenze zu rasch angehoben, könnten viele Niedriglöhner ihren Job verlieren, anstatt mehr zu verdienen.

Bonin plädiert daher dafür, den Mindestlohn nicht auf einen Schlag, sondern schrittweise anzuheben und jedes Mal zu beobachten, ob die Risikoschwelle bereits erreicht ist. Zudem verweist der IZA-Forscher auf eine weitere Erkenntnis des noch jungen Mindestlohns: Höhere Stundenlöhne bedeuten nicht unbedingt höhere Einkommen. Tatsächlich haben Betroffene ihre Arbeitszeit häufig in dem Maß verringert, wie der Mindestlohn stieg. Resultat: Der Niedrigverdienst blieb auch nach der Erhöhung ein Niedrigverdienst.

Die Bundesagentur für Arbeit (BA) wiederum hält wenig von den SPD-Plänen, das Arbeitslosengeld künftig bis zu drei Jahre lang auszuzahlen, wie aus einem internen Papier der Behörde hervorgeht. Eine solche Maßnahme entspreche nicht den Erfordernissen des Arbeitsmarktes. Nach Erkenntnissen ihres Forschungsinstituts IAB erhöht sich dadurch das Risiko, dass sich manche Betroffene länger als nötig arbeitslos melden.

Stattdessen präsentieren die BA-Experten einen anderen Vorschlag, wie die Lebensleistung langjährig Versicherter besser als heute anerkannt werden kann: Wenn sie in Hartz IV fallen, sollen sie einen steuerfinanzierten Zuschlag auf den Regelsatz erhalten.

Auch bei den Grundrentenplänen des sozialdemokratischen Arbeitsministers Hubertus Heil melden die Fachleute Bedenken an. Wer mindestens 35 Jahre lang berufstätig war, Kinder oder Pflegebedürftige betreut hat und doch nur eine magere Altersversorgung erwarten kann, der soll einen großzügigen Zuschlag erhalten, "Respekt-Rente" genannt. Bis zu vier Millionen Senioren könnten profitieren, hat Heil errechnet, im Einzelfall könne das Plus bis zu 448 Euro monatlich ausmachen.

Was klingt wie ein großes Versprechen, wirft in Wahrheit unzählige neue Gerechtigkeitsprobleme auf. So dürfte sich der Paketbote mit einer 38,5-Stunden-Woche fragen, warum er am Ende genauso behandelt wird wie seine Kollegin, die nur Teilzeit gearbeitet hat. Und dem Altenpflegehelfer, der sich 34 Jahre lang den Rücken krumm gemacht hat, ist kaum zu erklären, warum ihm keine Grundrente zustehen soll; der Friseurin mit 35 Jahren Berufstätigkeit aber schon.

Geringverdienerin Kolberg: "Am Ende habe ich nichts davon"

Hinzu kommt: Dem Koalitionspartner gehen Heils Pläne zu weit. Würden sie umgesetzt wie von ihm geplant, würde das nach Schätzung von Finanzexperten bis zu sechs Milliarden Euro kosten. Geld, das die Union lieber anders einsetzen würde: für die versprochenen Steuersenkungen zum Beispiel oder den teuren Kompromiss zum Kohleausstieg.

Nun hat in Berlin das übliche Feilschen begonnen, bei dem es, ebenfalls wie gewohnt, eher um Parteitaktik als um tragfähige Lösungen geht. Die Union sorgt sich, das Projekt Grundrente könnte bei den anstehenden Landtagswahlen im Osten nur als Modell des SPD-Sozialministeriums wahrgenommen werden. Umgekehrt fürchtet die SPD, die Union könnte ihr wieder einmal ein ursozialdemokratisches Thema rauben.

Am Mittwochabend kamen sich die Partei- und Fraktionsvorsitzenden auch nach sechs Stunden nicht näher. Es war ein besonderes Treffen: Zum ersten Mal trat Angela Merkel als Gastgeberin im Kanzleramt, aber nicht mehr als Parteichefin auf. In der Rentenpolitik mischte sie trotzdem kräftig mit: Für die Union werde es nur eine Regelung geben, die eine sogenannte Bedürftigkeitsprüfung enthalte. Das ist die Bedingung, die von der Kanzlerin gestellt – und von der SPD derzeit noch vehement abgelehnt wird.

Allerdings ist dieses Detail entscheidend: Würde vor der Auszahlung der Grundrente geprüft, ob die Senioren tatsächlich bedürftig sind, müssten sie ihr gesamtes Vermögen offenlegen und angeben, ob ihr Partner über höhere Einkommen verfügt. Die SPD hält das für entwürdigend. Die Union dagegen will mit der Prüfung vermeiden, dass die Grundrente an Menschen gezahlt wird, die auch anders über die Runden kommen.

Auch finanziell ist der Unterschied beträchtlich: Schon im Januar hatte eine eigene Arbeitsgruppe aus Bund und Ländern ausgerechnet, was die Pläne aus dem Koalitionsvertrag kosten würden. Bei einer strengen Bedürftigkeitsprüfung gäbe es demnach nur 130.000 Begünstigte, die 35 Beitragsjahre auf ihrem Rentenkonto gesammelt haben. Die Kosten des Projekts könnten auf etwa 200 Millionen Euro zusammenschmelzen. Die Begeisterung der Wähler für das Projekt dürfte allerdings genauso schrumpfen.

So steckt die Koalition in einem echten Dilemma: "Wenn die Politik zu großzügig ist, wird es zu teuer. Wenn sie zu wenig macht, löst eine Grundrente ihr Versprechen nicht ein", sagt Martin Werding, Sozialexperte an der Ruhr-Universität Bochum.